Olympos
Aufwachraum mit seinen zehn Betten wie bei einem Gewitter riecht. Mahnmut hat Bl u men aus dem umfangreichen Gewächshaus der Queen Mab mitg e bracht; seinen Datenbanken zufolge gehörte das im prärubikon i schen einundzwanzigsten Jahrhundert, aus dem H o ckenberry – oder zumindest Hockenberrys DNA – stammt, noch immer zur Etikette. Der Scholiker lacht bei ihrem Anblick und gibt zu, dass er noch nie Blumen bekommen hat, jedenfalls soweit er sich eri n nern kann. Er fügt allerdings hinzu, dass se i ne Erinnerung an sein Leben auf der Erde – sein wirkliches Leben, sein Leben als Hoc h schullehrer statt als Scholiker für die Götter – alles andere als l ü ckenlos ist.
»Was für ein Glück, dass du auf die Queen Mab qtet bist«, sagt Mahnmut. »Niemand anders hätte den medizinischen Sachve r stand oder die chirurgischen Fähigkeiten besessen, dich zu he i len.«
»Oder den spinnenartigen Moravec-Chirurgen«, ergänzt H o ckenberry. »Als ich Retrograde Sinopessen kennen lernte, hatte ich keine Ahnung, dass er mir nicht einmal vierundzwanzig Stunden später das Leben retten würde. Komisch, wie das L e ben so spielt.«
Darauf fällt Mahnmut nichts ein. Nach einer Weile sagt er: »Ich weiß, du hast Asteague/Che erzählt, was dir passiert ist, aber würde es dir etwas ausmachen, noch einmal darüber zu spr e chen?«
»Keineswegs.«
»Du sagst, Helena hätte dich niedergestochen?«
»Ja.«
»Und das nur, damit ihr Gatte – Menelaos – nicht herausfi n det, dass sie ihn im Stich gelassen hat, nachdem du ihn zu den achä i schen Linien zurückteleportiert hattest?«
»Ich glaube schon.« Mahnmut war kein Experte für menschl i ches Mienenspiel, aber selbst er konnte erkennen, dass Hocke n berry bei diesem Gedanken traurig dreinschaute.
»Aber du hast Asteague/Che erzählt, du und Helena, ihr w ä ret miteinander intim gewesen … ein Liebespaar.«
»Ja.«
»Du musst meine Unkenntnis in solchen Dingen entschuld i gen, Hockenberry, aber es scheint, als wäre Helena von Troja eine sehr bösartige Frau.«
Hockenberry zuckt die Achseln und lächelt, wenn auch tra u rig. »Sie ist ein Produkt ihrer Zeit, Mahnmut – sie hat schlimme Dinge erlebt, die sie geprägt haben, und ihre Motive überste i gen mein Begriffsvermögen. In meinen Ilias -Seminaren habe ich immer wieder betont, dass all unsere Versuche, Homers G e schichte zu humanisieren – sie zu etwas umzumodeln, was dem modernen humanistischen Diskurs zugänglich wäre –, zum Scheitern veru r teilt sind. Diese Figuren … diese Leute waren zwar vollauf mensc h lich, aber sie standen ganz am Anfang unserer so genannten Ku l tur, Jahrtausende, bevor sich unsere gegenwärtigen humanist i schen Werte herauszubilden begannen. In diesem Licht betrachtet, sind Helenas Handlungen und Motive für uns so schwer zu e r gründen wie etwa Achilles ’ nahezu absolute Gnadenlosigkeit o der Odysseus ’ unaufhörliche Ar g list.«
Mahnmut nickt. »Weißt du, dass Odysseus auf diesem Schiff ist? Hat er dich schon besucht?«
»Nein, ich habe ihn noch nicht gesehen, aber Hauptintegrator Asteague/Che hat mir erzählt, dass er an Bord ist. Ehrlich g e sagt, ich habe Angst, dass er mich umbringt.«
»Dich umbringt?« Mahnmut ist schockiert.
»Nun ja, du weißt doch, dass ihr ihn mit meiner Hilfe entführt habt. Ich war es, der ihm eingeredet hat, du hättest eine Nac h richt von Penelope für ihn – ich habe ihm all diesen Unsinn über den Olivenstamm als Bestandteil seines Bettes daheim in Ithaka e r zählt. Und als es mir gelungen war, ihn zur Hornisse zu locken … zack!, hat Mep Ahoo ihn umgesemmelt und in die Hornisse ve r frachtet. An Odysseus ’ Stelle wäre ich garantiert sauer auf einen gewissen Thomas Hockenberry.«
Umgesemmelt, denkt Mahnmut begeistert. Ein neues Wort! Er lässt es durch sein Lexikon laufen, findet es und speichert es zwecks späterer Verwendung ab. »Tut mir Leid, dass ich dich in eine gefährliche Lage gebracht habe«, sagt Mahnmut. Er e r wägt, dem Scholiker zu erzählen, dass Orphu ihm inmitten des ganzen Durcheinanders um das sich endgültig schließende Loch per En g strahl einen Befehl der Hauptintegratoren übermittelt hatte – schnapp dir Odysseus –, aber dann beschließt er, sich lieber doch nicht darauf herauszureden. Dr. phil. Thomas Hockenberry ist in jenem Jahrhundert geboren, in dem die Ausrede Ich habe nur Befe h le befolgt ein für alle Mal aus der Mode kam.
»Ich rede mal mit Odysseus … «, beginnt
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