Olympos
hat. »Ich war spazieren«, erwidert sie ebenso leise.
»Spazieren«, sagt die schöne Kassandra im Ton einer Betrunk e nen, der so häufig mit ihren Trancezuständen einhergeht. Die blonde Frau grinst spöttisch. »Spazieren … mit deinem Messer, liebe Helena? Hast du es gut abgewischt?«
Andromache bringt Priamos ’ Tochter zum Schweigen. Die Skl a vin Hypsipyle beugt sich näher zu Kassandra, und Helena sieht, dass sie die Prophetin an ihrem blassen Arm gepackt hat. Ka s sandra zuckt bei dem Druck zusammen – Hypsipyles Finger gr a ben sich auf Andromaches Nicken hin tief in ihre blasse Haut –, aber dann lächelt sie wieder.
Wir werden sie töten müssen, denkt Helena. Es kommt ihr vor, als hätte sie die anderen beiden überlebenden Mitglieder der »Troj a nerinnen«, wie sie sich selbst genannt haben, vor Mon a ten zum letzten Mal gesehen, dabei ist es noch nicht einmal vierundzwa n zig Stunden her, seit sie sich von ihnen vera b schiedet hat und von Menelaos gekidnappt wurde. Die vierte und letzte überlebende heimliche »Trojanerin« – Herophile, die »Geliebte der Hera«, die älteste Sibylle in der Stadt – steht ebenfalls in dieser Gruppe wic h tiger Frauen, aber Herophiles Blick ist leer, und sie sieht aus, als wäre sie in den vergangenen acht Monaten um zwanzig Jahre g e altert. Helena erkennt, dass ihre Zeit ebenso um ist wie die von Priamos.
Sie wendet sich innerlich nun wieder den mentalen Strukt u ren trojanischer Innenpolitik zu und ist erstaunt, dass Andr o mache Kassandra am Leben gelassen hat – wenn Priamos und die Stad t bevölkerung erfahren, dass Andromaches und Hektors Baby, Astyanax, noch lebt, dass der Tod des Kindes nur eine List war, um den Krieg gegen die Götter anzuzetteln, würde Hektors Frau in Stücke gerissen werden. Tatsächlich würde Hektor sie eige n händig töten.
Wo ist Hektor? Helena stellt fest, dass er es ist, auf den alle wa r ten.
Als sie die Frage gerade im Flüsterton an Andromache richten will, kommt Hektor herein, begleitet von einem Dutzend seiner Truppenführer und engsten Gefährten. Obwohl der König von Troja – der alte Priamos – auf seinem Thron neben Königin Hek a bes leerem Thron sitzt, ist es, als hätte der wahre König ganz Il i ums soeben den Raum betreten. Die Wache haltenden Lanze n kämpfer mit dem roten Federbusch auf dem Helm stehen noch strammer. Die müden Heerführer und Recken, viele staubbedeckt und blutbesudelt von den nächtlichen Kämpfen, richten sich auf. Alle, selbst die Frauen der königlichen Familie, halten den Kopf höher.
Hektor ist hier.
Obwohl sie seit zehn Jahren seine Erscheinung, seinen Helde n mut und seine Klugheit bewundert, seit zehn Jahren eine Pflanze ist, die sich zum Sonnenschein von Hektors Charisma rankt, merkt Helena von Troja, wie ihr Puls zum zehntausend s ten Mal rast, als Hektor, der Sohn des Priamos, der wahre A n führer der Kämpfer und der Einwohner Trojas, die Halle betritt.
Hektor trägt seine Kriegsrüstung. Er ist sauber – offenbar kommt er aus dem Bett und nicht vom Schlachtfeld; seine Rü s tung ist frisch poliert, sein Schild hat keinen Kratzer, selbst se i ne Haare sind frisch gewaschen und geflochten – aber der junge Mann wirkt müde, als litte er Seelenqualen.
Hektor begrüßt seinen königlichen Vater und nimmt umstand s los auf dem Thron seiner toten Mutter Platz, während seine Tru p penführer hinter ihm Aufstellung nehmen.
»Wie ist die Lage?«, fragt Hektor.
Hektors Bruder Deiphobos, blutbesudelt von den Kämpfen der Nacht, antwortet, wobei er König Priamos ansieht, als wü r de er ihm Bericht erstatten, obwohl er in Wahrheit mit Hektor spricht. »Die Mauern und das große skäische Tor sind sicher. Agame m nons plötzlicher Angriff hätte uns beinahe überrascht, und wir waren unterbesetzt, weil viele Kämpfer auf der and e ren Seite des Loches gegen die Götter kämpften, gleichwohl haben wir die A r geier abgewehrt und in der Morgendämm e rung zu ihren Schiffen zurückgetrieben. Aber es war knapp.«
»Und das Loch ist geschlossen?«, fragt Hektor.
»Es ist fort«, bestätigt Deiphobos.
»Und all unsere Männer sind durch das Loch zurückgeko m men, bevor es verschwand?«
Deiphobos wirft einem seiner Truppenführer einen raschen Blick zu und bekommt ein kaum merkliches Zeichen. »Wir gla u ben schon. Es gab ein großes Tohuwabohu, als Tausende sich zur Stadt zurückgezogen haben, die Moravec-Kunstwesen mit ihren Flugmaschinen geflohen sind und Agamemnon
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