Olympos
Mythen der alten Schöpfung erzählten Versionen derselben Geschichte, legten dieselbe schreckliche Wahrheit frei: Wenn du den Göttern Feuer und Wissen stiehlst, e r hebst du dich ein Stück weit über die Tiere, aus denen du dich entw i ckelt hast, aber du stehst noch immer tief, tief unter jedem echten Gott.
In dieser Sekunde hätte Harman alles dafür gegeben, die sechsundzwanzig persönlichen und religiösen Testamente jener Wahnsinnigen loszuwerden, die Allahs Schwert bemannt hatten. In ihren leidenschaftlichen Abschiedsworten spürte er das volle Gewicht der Bürde, mit der er Ada, Daeman, Hannah, seine Freunde, seine Gattung hatte befrachten wollen.
Er dachte an dieses ganze letzte Jahr zurück. Die Turin-Tuch-Geschichte von Troja, Prosperos scherzhaftes kleines Geschenk an die Altmenschen, weitergegeben von Odysseus und Savi, ihre diversen verrückten Suchexpeditionen, die tödliche Mask e rade auf Prosperos Insel oben im Ä-Ring, seine Flucht, die En t deckung der Bewohner von Ardis, wie man Waffen baute, ein i ge primitive Anfänge einer Gesellschaft entwickelte, die ersten Gehversuche auf dem Gebiet der Politik, ja sogar der Religion unternahm …
All das hatte sie wieder menschlich gemacht.
Nach über vierzehnhundert Jahren des Komas und der Gleichgültigkeit war die Menschheit auf die Erde zurückg e kehrt.
Harman erkannte, dass sein Kind mit Ada ganz und gar menschlich gewesen wäre – vielleicht der erste echte Mensch, der nach all diesen bequemen, unmenschlichen, von falschen nachmenschlichen Göttern überwachten Jahrhunderten der Stagnation das Licht der Welt erblickt hätte –, auf Schritt und Tritt mit Gefahr und Sterblichkeit konfrontiert, zwangsläufig erfinderisch, genötigt, Bande mit anderen Menschen zu knü p fen, schon allein, um die Voynixe, die Calibani, Caliban selbst und das Setebos-Wesen zu überleben …
Es wäre aufregend gewesen. Es wäre beängstigend gewesen. Es wäre echt gewesen.
Und es hätte alles – vielleicht, möglicherweise – wieder zu A l lahs Schwert geführt.
Harman rollte sich auf die Seite und erbrach sich erneut. Diesmal bestand das Erbrochene größtenteils aus Blut und Schleim.
Noch schneller, als ich gedacht hatte.
Die Augen gegen den Schmerz geschlossen – gegen all die Varianten von Schmerz, aber ganz besonders gegen den Schmerz dieses neuen Wissens –, legte Harman die Hand an seine rechte Hüfte. Die Pistole war noch da.
Er löste den Thermohaut-Streifen, zog die Waffe von dem Haftflicken, füllte mit der anderen Hand die Kammer, wie Moira es ihm gezeigt hatte – er legte eine der Patronen ein –, ents i cherte sie und hielt sich die Mündung an die Schläfe.
75
Der Demogorgon nimmt die Hälfte des flammenden Himmels ein. Asia, Panthea und die schweigsame Schwester Ione ducken sich weiterhin zusammen. Die Felsen, Kämme und vulkan i schen Gipfel in der Nähe füllen sich mit gigantischen, drohend aufragenden Gestalten – Titanen, Stunden, Monsterrosse, Monster-Monster, riesige Tausendfüßler wie der Heiler, nich t menschliche Wagenlenker und weitere Titanen, alle nehmen ihre Positionen ein wie Geschworene, die zu einem Prozess auf den Stufen eines griechischen Tempels erscheinen. Dank der Thermohaut-Gläser kann Achilles alles sehen, und er wünscht beinahe, es wäre nicht so. Die Monster des Tartaros sind zu monströs; die Titanen zu ungepflegt und zu titanisch; die W a genlenker und die Wesen, die der Demogorgon Stunden g e nannt hat, sind überhaupt nicht richtig scharf zu erkennen. Achilles fühlt sich daran erinnert, wie er einem Trojaner mit e i nem Schwerthieb den Bauch und die Brust aufgeschlitzt und einen kleinen menschlichen Homunkulus vor sich gesehen hat, der zu ihm herausstarrte; blaue Augen schienen ihn durch die gebrochenen Rippen und herausgequollenen Eingeweide anz u blinzeln. Es war das einzige Mal, dass er je auf dem Schlach t feld gekotzt hat. Diese Stunden- und Wagenlenker-Wesen a n zusehen ist genauso schwierig.
Während der Demogorgon darauf wartet, dass die monstr ö sen Geschworenen sich versammeln und ihre Plätze einne h men, zieht Hephaistos ein dünnes Kabel aus der Helmkugel seines absurden Anzugs und befestigt das Ende des Kabels an der Kapuze von Achilles ’ Thermohaut.
»Kannst du mich hören?«, fragt der verkrüppelte Zwerggott. »Wir haben ein paar Minuten Zeit, miteinander zu reden.«
»Ja, ich höre dich, aber was ist mit dem Demogorgon? Er hat dich vorhin auch gehört.«
»Nein, das ist
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