Olympos
schön – auf seine dralle, d e formierte, dumpfe, düstere, dämonische Weise.«
Orphu ließ sein rumpelndes Lachen hören – Töne, bei denen Mahnmut immer an die Erschütterungen im Anschluss an eur o pasche Eisbeben oder an Folgewellen eines Tsunamis denken musste. »Das sind aber allerhand Alliterationen für einen angste r füllten Astronauten«, sagte er.
Mahnmut zuckte die Achseln, fühlte sich eine Sekunde lang schlecht, weil sein Freund die Geste nicht sehen konnte, und e r kannte dann, dass Orphu sie gesehen hatte. Das neue Radar des großen Moravecs war ein sehr gutes Instrument; sein einziges Manko war, dass es keine Farben wahrnehmen konnte. Orphu hatte ihm erzählt, mit dem Feinradar sei es ihm möglich, kaum merkliche Veränderungen im Gesicht eines Menschen ausz u machen. Nützlich, falls Hockenberry tatsächlich an dieser Mission tei l nimmt, dachte Mahnmut.
Als läse er seine Gedanken und in seinen Datenbanken, sagte Orphu: »Ich habe in letzter Zeit viel über die menschliche Tra u rigkeit nachgedacht, verglichen mit der Art und Weise, wie wir Moravecs mit einem Verlust umgehen.«
»O nein«, sagte Mahnmut, »du hast schon wieder diesen Fra n zosen gelesen.«
»Proust«, sagte Orphu. »Dieser › Franzose ‹ heißt Proust.«
»Ich weiß. Aber warum tust du das? Du weißt doch, dass du immer Depressionen kriegst, wenn du Erinnerungen an die Verga n genheit liest.«
»Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, verbesserte Orphu von Io. »Ich habe jenen Abschnitt gelesen, der im französischen Orig i nal den Titel › Le Chagrin et l ’ Oubli ‹ trägt, › Kummer und Verge s sen ‹ . Du weißt schon, den Teil nach Albertines Tod, in dem Marcel, der Erzähler, sie zu vergessen versucht, es aber nicht schafft?«
»Ah ja«, sagte Mahnmut. »Das hat dich bestimmt enorm aufg e muntert. Wie wär ’ s, wenn ich dir zur Abwechslung mal Ha m let leihe?«
Orphu ignorierte das Angebot. Sie waren jetzt so hoch oben, dass sie das ganze Schiff unter sich sehen und über die Wände des Stickney-Kraters hinwegschauen konnten. Mahnmut wus s te, dass Orphu problemlos viele tausend Kilometer durch den Weltraum fliegen konnte, aber das Gefühl, dass sie außer Ko n trolle geraten waren und Phobos und die Stickney-Basis verli e ßen – genau das, wovor er Hockenberry gewarnt hatte –, war sehr stark.
»Um sich von Albertine abzunabeln«, sagte Orphu, »muss der arme Erzähler noch einmal in seine Erinnerungen und seine G e dankenwelt eintauchen und sich allen Albertines stellen – denen, an die er sich erinnert, ebenso wie den imaginären, die er begehrt hat und auf die er eifersüchtig war –, all diesen virtuellen Albert i nes, die er in seinem Kopf erschaffen hat, als er sich mit der Frage herumquälte, ob sie sich hinter seinem Rücken davonschlich, um sich mit anderen Frauen zu treffen. Ganz zu schweigen von den verschiedenen Albertines, die er begehrt hat – dem Mädchen, das er kaum kannte, der Frau, die er erobert hatte, aber nicht besaß, der Frau, deren er überdrüssig gewo r den war.«
»Klingt ja unheimlich spannend«, sagte Mahnmut und versuc h te, durch seinen Ton über Funk zu vermitteln, wie satt er die ga n ze Proust-Sache hatte.
»Und das ist noch längst nicht alles«, sagte Orphu, ohne die Ir o nie zu beachten – oder vielleicht, ohne sie zu bemerken. »Um in seiner Trauerarbeit voranzukommen, muss der arme Marcel – die Erzählerfigur hat denselben Namen wie der Autor, weißt du … Moment mal, du hast das doch gelesen, oder, Mahnmut? Das hast du mir jedenfalls versichert, als wir letztes Jahr ins Innere des Sy s tems geflogen sind.«
»Ich hab ’ s … überflogen«, sagte der europasche Moravec.
Selbst Orphus Seufzer lag beinahe schon im Infraschallb e reich. »Also, wie gesagt, der arme Marcel muss sich nicht nur dieser L e gion von Albertines in seinem Kopf stellen, bevor er sie loslassen kann, er muss sich auch all den Marcels stellen, die diese manni g faltigen Albertines wahrgenommen haben – de n jenigen, die sie mehr als alles auf der Welt begehrten, den ir r sinnig eifersüchtigen Marcels, den gleichgültigen Marcels, den Marcels, deren Urteil s fähigkeit vom Begehren getrübt war, den … «
»Gibt ’ s da irge ndeine Pointe?«, fragte Mahnmut. Sein eigenes I n teressengebiet während der vergangenen anderthalb Standar d jahrhunderte waren Shakespeares Sonette gewesen.
»Nur die Schwindel erregende Komplexität des menschlichen Bewusstseins«, sagte
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