Olympos
und eine Überlebenskünstlerin, wie sie im Buche stand – überlebte ohne einen Kratzer.
Die Stadt Troja lag in den alten Zeiten ebenso in einer Erdb e benzone wie dieser Teil der Türkei heute, die Menschen wus s ten auch damals schon, wie man auf Beben reagieren musste, und meine Durchsage hatte wahrscheinlich viele gerettet. Nicht wenige Menschen suchten tatsächlich in massiven Torwegen Schutz oder flohen auf freie Flächen, um nicht unter einstü r zenden Gebäuden begraben zu werden. Später schätzte man, dass etliche Tausend auf die Ebene hinausgelaufen waren, b e vor die Stadt fiel, die Türme umkippten und die Mauern z u sammenbrachen.
Ich für meinen Teil schaute mich fassungslos und ungläubig um. Die edelste aller Städte, die zehn Jahre Belagerung durch die Achäer und weitere Monate des Krieges gegen die Götter überstanden hatte, war ein Trümmerfeld. Hier und dort bran n ten Feuer – nicht die allgegenwärtigen Feuersbrünste einer m o dernen Stadt meiner Zeit nach einem Erdbeben, denn hier gab es keine geborstenen Gasleitungen –, aber es gab genug Feuer in Kohl e becken, Feuerstellen und Küchen sowie simple Fackeln in fen s terlosen Hallen, die jetzt kein Dach mehr besaßen. Genug Fe u er. Der Rauch vermischte sich mit dem wogenden Staub, und die vielen hundert, die mit uns auf dem Platz herumwi m me l ten, husteten weiter und betupften sich die Augen.
»Ich muss Priamos suchen … und Andromache … «, sagte H e lena zwischen Hustenanfällen. »Ich muss Hektor suchen!«
»Schau du dich hier nach deinen Leuten um, Helena«, sagte ich zwischen Hustenanfällen. »Ich gehe zum Strand hinunter und suche Hektor.«
Ich wandte mich zum Gehen, aber Helena packte mich am Arm. »Hock-en-bär-iihh … was war das? Wer hat das getan?«
Ich sagte ihr die Wahrheit. »Die Götter.«
Es war lange prophezeit worden, dass Troja so lange nicht fa l len würde, wie der Stein über dem riesigen skäischen Tor fest an seinem Platz saß, und als ich mich nun mit den fliehenden Menschenmengen hindurchschob, bemerkte ich, dass die hö l zernen Torflügel zersplittert waren und der riesige Türsturz herabgefallen war.
Nichts war mehr so wie noch vor zehn Minuten. Nicht nur, dass die Stadt binnen Sekunden von einem Feuerkreis zerstört worden war – auch die Umgebung hatte sich verändert, der Himmel hatte sich verändert, das Wetter hatte sich verändert. Wie Dorothy im Zauberer von Oz waren wir ganz eindeutig weit weg von zu Hause.
Über zwanzig Jahre lang hatte ich an der Universität von I n diana und anderswo Seminare über die Ilias abgehalten, aber ich war nie auf die Idee gekommen, Troja einen Besuch abz u statten – den Ruinen Trojas an der türkischen Küste. Aber ich hatte genug Fotos von dem Ort am Ende des zwanzigsten und am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts gesehen. Di e ser Ort, wo Ilium eine Bruchlandung hingelegt hatte wie Dorothys Haus im Lande Oz, besaß größere Ähnlichkeit mit den Ruinen Trojas auf einem Hügel namens Hisarlik im einundzwanzigsten Jahrhundert als mit dem geschäftigen Zen t rum eines Reiches, wie Ilium es einst gew e sen war.
Als ich den Blick über die veränderte Szenerie schweifen ließ – und über den veränderten Himmel, denn die Griechen hatten ihr letztes Gefecht am frühen Nachmittag ausgefochten, und jetzt war bereits der Abend hereingebrochen –, erinnerte ich mich an einen Gesang aus Byrons Don Juan, der entstanden war, als der Dichter im Jahre 1810 diesen Ort besucht und s o wohl dessen Verbindung zur Heldengeschichte als auch dessen Distanz zu ihr gespürt hatte:
Erdhaufen ohne Marmor, ohne Namen,
Der Fluss Skamander, (wenn er ’ s ist,) und dann
Ein weiter öder Plan, den Berg umrahmen,
Und Ida hinten, – mehr ist nicht daran.
Der Platz scheint wie gemacht für blut ’ ge Dramen,
Und Raum ist dafür hunderttausend Mann;
Doch wo man sucht nach Ilions alten Mauern,
Da grasen Schaf und Landschildkröten kauern.
Ich sah keine Schafe, doch als ich zu der abgestürzten Stadt zurückschaute, war die Kammlinie weitgehend dieselbe – wenngleich offenkundig einen Meter und siebenundfünfzig Zentim e ter niedriger, wo die Stadt soeben auf das Ruinenfeld des Amateurarchäologen Schliemann gefallen war. Eine Eri n nerung stieg in mir auf: Mehr als ein Jahrtausend nach dem Verschwinden des ursprünglichen Ilium hatten die alten Römer mehrere Meter Erdreich von dieser Kammlinie geräumt, um dort ihre eigene Stadt Ilion zu errichten,
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