Olympos
»Diesen Mob hat niemand aufgehalten.«
Die ersten Frauen kehrten bereits auf den Platz zurück und ma r schierten in einer Parodie militärischer Ordnung zum Tor hinaus. Offensichtlich waren sie in ihre verstreuten Wohnungen und Häuser zurückgekehrt und hatten sich mit allen erdenklichen sel t samen Rüstungen und Waffen ausstaffiert, die sie im Haus finden konnten – mit dem stumpfen Bronzehelm eines V a ters, dessen Helmbusch schlaff herabhing oder sich bereits lichtete, dem abg e legten Schild eines Bruders, der Lanze oder dem Schwert eines Gemahls oder Sohnes. Die Rüstungsteile waren allesamt zu groß, die Lanzen zu schwer, und die meisten Fra u en, die scheppernd und klappernd vorbeigingen, sahen aus wie verkleidete Kinder.
»Das ist Wahnsinn«, sagte Andromache leise. »Wahnsinn.«
»Seit dem Tod von Achilles ’ Patroklos war alles reiner Wah n sinn«, sagte Kassandra. Ihre hellen Augen glühten wie vom Fieber oder ihrem eigenen Wahnsinn. »Unwahr. Falsch. Br ü chig.«
Über zwei Stunden hatten die Frauen in Andromaches sonn i ger Wohnung im obersten Geschoss eines Hauses an der Mauer mit dem achtzehn Monate alten Skamandrios verbracht, dem »von den Göttern ermordeten« Kind, um das die ganze Stadt getrauert hatte, dem Baby, dessentwegen Hektor in den Krieg gezogen war, um an sämtlichen olympischen Göttern Rache zu nehmen. Skamandrios – Astyanax, der »Herr der Stadt« – war in bester Verfassung. Seine neue Amme behielt ihn stets sor g sam im Auge, und an der Tür hielten loyale cicilianische Wächter aus dem gefa l lenen Theben tagein, tagaus Wache. Diese Männer hatten ve r sucht, ihr Leben für Andromaches Vater, König Eetion, zu geben, der beim Fall der Stadt von Achilles getötet worden war. Dass sie verschont geblieben waren, lag nicht an ihnen, sondern an einer von Achilles ’ Launen, und nun lebten sie nur für Eetions Tochter und deren verborgenen Sohn.
Das Baby, das inzwischen schon Wörter brabbelte und überall herumtapste, erkannte seine Tante Kassandra nach all diesen M o naten – fast der Hälfte seines kurzen Lebens – wieder und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zugelaufen.
Kassandra ließ sich von ihm umarmen, weinte und umarmte ihn ebenfalls, und dann spielten und redeten die drei »Trojan e rinnen« und die beiden Sklavinnen – eine Säugamme, eine Mörderin aus Lesbos – fast zwei Stunden lang mit dem kleinen Jungen, und als er ins Bett gelegt wurde, um ein kleines Schlä f chen zu machen, unterhielten sie sich noch etwas länger.
»Du verstehst, weshalb du diese Tranceworte nicht noch ei n mal laut aussprechen darfst«, sagte Andromache am Ende des Besuchs leise. »Wenn das falsche Ohr sie hört – wenn irgen d welche Ohren außer unseren diese verborgene Wahrheit hören –, wird Skamandrios sterben, genau wie du es einmal proph e zeit hast. Man wird ihn vom höchsten Punkt der Mauer werfen, und sein Gehirn wird über die Steine spritzen.«
Kassandra erbleichte noch mehr als sonst und vergoss erneut ein paar Tränen. »Ich werde lernen, meine Zunge im Zaum zu ha l ten«, sagte sie schließlich, »selbst wenn ich keine Macht über sie habe. Deine allzeit wachsame Dienerin wird dafür sorgen.« Sie machte eine Kopfbewegung zu der ausdruckslosen Hypsipyle.
Dann hatten sie den wachsenden Tumult und die Schreie der Frauen von der nahen Mauer und dem Platz vernommen und w a ren zusammen hinausgegangen, den Schleier übers Gesicht gez o gen, um zu sehen, worum es bei der ganzen Aufregung ging.
Im Verlauf von Hippodameias Tirade war Helena mehrmals versucht gewesen, sich einzumischen. Erst als es zu spät war – die vielen hundert Frauen zerstreuten sich bereits, um zu Hause Rü s tung und Waffen zu holen, und schossen durcheinander wie ein Schwarm hysterischer Bienen –, erkannte sie, dass Kassandra Recht hatte. Theano, ihre alte Freundin, die Hoheprie s terin des nach wie vor verehrten Tempels der Athene, hätte di e sen Unsinn verhindert. Mit ihrer geübten Tempeldienerinne n stimme hätte Theano »Was für eine Torheit!« gedo n nert, die Aufmerksamkeit der Menge auf sich gelenkt und die Frauen mit ihren Worten e r nüchtert. Theano hätte erklärt, diese Penthesilea – die bisher nichts für Troja getan habe, außer dessen alterndem König Ve r sprechungen zu machen und zu schlafen – sei die Tochter des Kriegsgottes. Treffe das auch nur für eine der krakeelenden Fra u en auf diesem Platz zu? Könnten sie behaupten, Ares sei ihr V a ter?
Darüber
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