Olympos
Peinig e rin, das Miststück, das ihn verraten hat, die Mutter seines Kindes. »Du warst immer fort. Mit deinem Bruder. Auf der Jagd. Im Krieg. Bei Huren. Zum Plündern. Du und Agame m non, ihr wart das eigentliche Paar – ich war nur die Zuchtsau, die du zu Hause zurückgelassen hast. Als Paris, dieser Schwindler, dieser listenre i che Odysseus ohne Odysseus ’ Klugheit, mich mit Gewalt nahm, hatte ich keinen Ehemann im Haus, der mich beschützt hätte.«
Menelaos atmet durch den Mund. Das Schwert scheint ihm e t was zuzuflüstern, als wäre es lebendig, als verlangte es nach dem Blut der Hündin. Das vielstimmige Zornesgeschrei in se i nem Ohr ist so laut, dass er ihre leisen Worte kaum hören kann. Die Erinn e rung an ihre Stimme hat ihn viertausend Nächte lang gequält; jetzt treibt sie ihn über den Wahnsinn hinaus.
»Ich bereue«, sagt sie, »aber das spielt jetzt gewiss keine Rolle. Ich bin demütig, aber auch das ist ohne Belang. Soll ich dir von den hundert Malen in den letzten zehn Jahren erzählen, in d e nen ich ein Schwert erhoben oder eine Schlinge aus Seil geknüpft h a be, nur um von meinen Kammerzofen und Paris ’ Spionen z u rückgerissen zu werden, die mich inständig baten, an unsere Tochter und nicht nur an mich zu denken? Diese En t führung und meine lange Gefangenschaft hier waren Aphrod i tes Werk, mein Gemahl, nicht mein eigenes. Aber du kannst mich nun mit einem einzigen Hieb deiner vertrauten Klinge befreien. Tu es, mein g e liebter Menelaos. Sag unserem Kind, dass ich es geliebt habe und immer noch liebe. Und wisse selbst, dass ich dich geliebt habe und immer noch liebe.«
Menelaos schreit auf, wirft das Schwert weg, das klappernd auf den Boden des Tempels fällt, und sinkt neben seiner Frau auf die Knie. Er schluchzt wie ein Kind.
Helena nimmt ihm die Kappe ab, legt ihm die Hand auf den Hinterkopf und zieht sein Gesicht an ihre bloßen Brüste. Sie l ä chelt nicht. Nein, sie lächelt nicht, und sie ist auch nicht ve r sucht zu lächeln. Sie spürt das Kratzen seines kurzen Bartes, seine Tr ä nen, die Hitze seines Atems an ihren Brüsten, die das Gewicht von Paris, Hockenberry, Deiphobos und anderen g e tragen haben, seit Menelaos sie zuletzt berührt hat. Treulose Fo t ze, ja, denkt Helena von Troja. Das sind wir alle. Sie hält die letzte Minute nicht für e i nen Sieg. Sie war bereit zu sterben. Sie ist sehr, sehr müde.
Menelaos steht auf. Zornig wischt er sich Tränen und Rotz aus dem roten Schnurrbart, hebt sein Schwert auf und steckt es wieder in die Scheide. »Leg deine Furcht ab, Weib. Was g e schehen ist, ist geschehen – das böse Werk von Aphrodite und Paris, nicht de i nes. Auf dem Marmor dort drüben liegen der Umhang und der Schleier einer Tempeljungfrau. Leg beides an, dann verlassen wir ein für alle Mal diese zum Untergang veru r teilte Stadt.«
Helena erhebt sich, berührt die Schulter ihres Mannes unter dem seltsamen Löwenfell, das sie einmal an Diomedes gesehen hat, während er Trojaner erschlug, und legt schweigend den weißen Umhang und den spitzenbesetzten weißen Schleier an.
Gemeinsam gehen sie in die Stadt hinaus.
Helena kann nicht glauben, dass sie Ilium einfach so verlässt. Nach über zehn Jahren durchs skäische Tor hinauszugehen und all das endgültig hinter sich zu lassen – was ist mit Kassandra? Mit den Plänen, die sie zusammen mit Andromache und den a n deren geschmiedet hat? Mit ihrer Verantwortung für den Krieg gegen die Götter, den sie – Helena – durch ihre Mache n schaften anzuzetteln geholfen hat? Ja sogar mit dem armen, traurigen H o ckenberry und ihrer kleinen Liebe?
Helena spürt, wie ihre Lebensgeister sich gleich freigelassenen Tempeltauben emporschwingen, als ihr klar wird, dass nichts von alledem noch ihr Problem ist. Sie wird mit ihrem rechtm ä ßigen Gemahl nach Sparta heimkehren – sie hat Menelaos vermisst, se i ne … Schlichtheit –, sie wird ihre Tochter sehen, die inzwischen zu einer Frau herangewachsen ist, und sie wird die letzten zehn Jahre als bösen Traum betrachten, während sie ins letzte Viertel ihres Lebens eintritt, natürlich ohne dass ihre Schönheit welkt, was sie nur dem Willen der Götter, nicht i h rem eigenen zu verdanken hat. Ihr ist auf jede nur denkbare Weise eine Gnadenfrist gewährt worden.
Die beiden gehen draußen auf der Straße dahin, als würden sie immer noch träumen, als auf einmal die Stadtglocken lä u ten, die großen Trompeten auf den Wachmauern erklingen und öffentl i
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