Olympos
– ein letztes Fax, das die Nichtsahnenden einem kannibalischen Tod in den Fängen e i nes W e sens namens Caliban auslieferte.
Die abstürzenden Sterne – in Wahrheit Stücke der beiden O r bitalobjekte, die dank Harmans und Daemans tätiger Mithilfe vor acht Monaten kollidiert waren – schossen von West nach Ost, aber dies war nur ein kleiner Meteoritenschauer, ganz a n ders als das schreckliche Bombardement jener ersten Wochen nach dem »A b sturz«. Ada dachte über diesen Ausdruck nach, den sie alle in den vergangenen Monaten benutzt hatten. Der Absturz. Was war da abgestürzt? Nur die Brocken des orbitalen Asteroiden, den Pro s pero mit Harmans und Daemans Hilfe zerstört hatte? Oder bezog sich dieser Begriff nicht auch auf den Ausfall der Servitoren und des Stromnetzes sowie die Tatsache, dass die Voynixe in jener Nacht – der Nacht des Absturzes – ihre Dienste eingestellt und sich fluchtartig der menschlichen Kontrolle entzogen hatten? An jenem Tag vor etwas über acht Monaten war ihnen nicht nur der Himmel auf den Kopf gefa l len, erkannte Ada, sondern die Welt, die sie und die vorang e gangenen Generationen von Altmenschen mehr als vierzehn Fünf-Zwanziger lang gekannt hatten, war z u grunde gegangen.
Ada befiel ein erster Hauch jener Übelkeit, unter der sie wä h rend der ersten drei Schwangerschaftsmonate gelitten hatte, aber diesmal lag es an ihrer Besorgnis und war kein morgendl i ches Erbrechen. Die Anspannung verursachte ihr Kopfschme r zen. Sie dachte aus, und das Proxnet schaltete sich ab; sie pr o bierte es mit dem Farnet – es funktionierte auch nicht –, dann mit der primit i ven Suchfunktion, aber die drei Männer und eine Frau, die sie suchte, waren zu weit entfernt für das rote, grüne oder bernstei n farbene Leuchten. Mit einem Zwinkern schaltete sie sämtliche Handfunktionen aus.
Jedes Mal, wenn sie eine dieser Funktionen aufrief, verspürte sie den Wunsch, noch mehr Bücher zu lesen. Ada schaute zu den he l len Fenstern der Bibliothek hinauf – sie sah jetzt die Köpfe anderer dort drin, die vor sich hin siglten – und wünsc h te, sie wäre bei ihnen, könnte mit den Händen über die Rücken der neuen Bücher streichen, die in den letzten Tagen herbeig e schafft und einsortiert worden waren, und zusehen, wie die goldenen Wörter über ihre Hände und Arme in ihren Kopf und ihr Herz strömten. Aber sie hatte an diesem kurzen Wintertag bereits fünfzehn Bücher gel e sen, und allein schon beim Gedanken an weiteres Sigln wallte Übelkeit in ihr auf.
Lesen – oder zumindest Sigl-Lesen – hat viel mit einer Schwange r schaft gemein, dachte sie und freute sich über die Metapher. Es löst Gefühle und Reaktionen aus, auf die man nicht vorbereitet ist … man fühlt sich zu voll, ist nicht ganz bei sich und bewegt sich plöt z lich auf einen vorbestimmten Moment zu, der das ganze Leben ein für alle Mal verändern wird. Sie fragte sich, was Harman zu ihrer Metapher s a gen würde – er war ein schonungsloser Kritiker seiner eigenen Metaphern und Analogien, wie sie wusste –, und dann spürte sie, wie die Übelkeit in ihrem Bauch zum He r zen emporstieg, als die Sorge wiederkam. Wo sind sie? Wo ist er? Geht es meinem Liebsten gut?
Adas Herz klopfte, als sie zu der leuchtenden offenen Feuerste l le und dem Gitterwerk des Holzgerüsts hinausging, Hannahs Kuppelofen, der jetzt, da Bronze, Eisen und andere Meta l le zu Waffen geschmiedet wurden, vierundzwanzig Stunden am Tag in Betrieb war.
Hannahs Freund Loes und eine Gruppe der jüngeren Männer schürten und unterhielten heute Abend die Feuer. »Guten Abend, Ada Uhr«, rief der hochgewachsene, dünne Mann zu ihr herunter. Er kannte sie seit Jahren, zog jedoch stets die Förmlichkeit des E h rentitels vor.
»Guten Abend, Loes Uhr. Irgendeine Nachricht von den Wac h türmen?«
»Leider nicht«, rief Loes herunter und trat ein Stück von der Öffnung am oberen Ende des Kuppelofens zurück. Ada b e merkte trotz ihrer Verzweiflung, dass der Mann sich den Bart abrasiert hatte und dass sein Gesicht rot und verschwitzt von der Hitze war. An einem Abend, an dem es vielleicht noch schneien würde, arbeitete er dort oben mit nacktem Oberkö r per.
»Gibt es heute Nacht einen Guss?«, fragte Ada. Hannah unte r richtete sie immer von solchen Dingen – und nächtliche Gü s se waren ein dramatisches Schauspiel –, aber der Schmelzofen fiel nicht in Adas Verantwortungsbereich und war ein Element ihres neuen Lebens, das sie nur
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