Oma 04 - Omas Erdbeerparadies
sie weiter. Trotz aller Fröhlichkeit ging ihr Arne nicht aus dem Kopf. Äußerlich war er beim Frühstück so locker wie immer gewesen, aber dahinter vermutete sie eine tiefe Verzweiflung, die sie noch nie bei ihm erlebt hatte. Es schien wirklich schlecht um ihn zu stehen.
«Was ist denn nun wirklich mit dem Erdbeerparadies?», fragte sie ihre Oma.
Imke schaute sie besorgt an.
«DAS EP IST AM ENDE!», schrieb sie auf ihren Block. «EP» war auf Föhr die übliche Abkürzung für das Erdbeerparadies.
«So schlimm?», fragte sie.
Ihre Oma nickte.
Wie bitter für Arne. Sie wusste, wie sehr sein Herz an dem Laden hing. Natürlich war das Paradies mehr ein Trödelladen als eine Disco, und ihr Onkel Arne war ein Spinner, allerdings ein äußerst liebenswerter! Ihr Vater Cord hatte ihn für seinen Lebensstil immer verachtet, für sie hingegen war er ein Vorbild, weil er nicht so kleinkariert wie ihre Eltern war. Letztlich hatte er in seinem Leben alles auf die richtige Spur bekommen, ohne sich zu verbiegen, dafür bewunderte sie ihn. Jetzt schien es allerdings finster für ihn auszusehen. Und zu allem Überfluss tauchte dann noch seine Nichte aus Frankfurt auf und wollte bei ihm wohnen. Aber obwohl er wirklich andere Sorgen hatte, konnte er sich riesig darüber freuen! Gerne hätte sie ihm irgendwie geholfen, aber wie? Ihre seltenen Erden aus Asien brachten ihn auch nicht weiter, aber außer internationalen Bankgeschäften hatte sie leider nichts gelernt – vielleicht konnte sie ihm bei der Buchführung zur Hand gehen?
Sie parkte den Rollstuhl auf der Promenade und half ihrer Oma die kleine Treppe zum Strand hinunter. Schritt für Schritt führte sie sie ans Wasser. Kurze Zeit später war Imkes Strandkleid ausgezogen, und sie saßen nebeneinander in der flachen warmen Nordsee. Imkes knallroter Badeanzug leuchtete in der Sonne, sie selbst trug einen gelben Bikini. Ihre Oma hatte darauf bestanden, ihr den Rücken einzucremen, denn die friesische Sonne knallte heute erbarmungslos vom Himmel.
Während Oma sich unablässig Wasser mit den Händen über den Kopf schüttete, schwamm Jade fast eine Dreiviertelstunde in der frischen Nordsee. Sie kraulte eine lange Bahn, legte sich anschließend lang ins Wasser, ließ sich treiben, um dann erneut zu schwimmen. Irgendwie fühlte sich hier alles viel leichter an als an Land. Das angenehm temperierte Meer umschmeichelte ihren Körper.
«Wollen wir etwas essen?», fragte sie, als sie wieder bei Oma war.
Imke schüttete sich statt einer Antwort mit der hohlen Hand erneut etwas Meereswasser über den Kopf. Sie hätte wohl den ganzen Tag hier sitzen können.
«Du musst schon völlig durchgeweicht sein», lachte Jade und half ihr aus dem Wasser. Dann legten sie sich in den warmen Sand, um sich von der Sonne trocknen zu lassen. Eine Stunde später begleitete Jade ihre Oma zurück zum Rollstuhl auf der Promenade. Zum Glück war das Strandcafé Pitschis nicht weit, hier trafen sich die Surfer, und auch ein paar Katamarane lagen im Sand.
Als sie sich auf der Terrasse niederließen, spürte Jade, dass sie ein richtiges Loch im Magen hatte. Ebenso wie ihre Großmutter verschmähte sie die Wellness-Angebote der Speisekarte und bestellte Currywurst Pommes mit einer Extraportion Mayo. Drei Jugendliche in Jades Alter setzten sich an den Tisch neben ihnen.
Eins der Mädchen war bestimmt ein Meter achtzig groß und hatte kurze blonde Haare. Ihre deutlich kleinere Freundin mit den langen schwarzen Haaren wirkte wie ihr Gegenentwurf, und der schlaksige Junge in ihrer Mitte sah mit seinem Seitenscheitel aus wie ein zukünftiger Jurist oder Banker. Dass Jade selbst noch am Tag zuvor im Businessanzug in der Investmentbank herumgelaufen war, hatte sie fast vergessen.
«Hier wäre ich auch gerne zur Schule gegangen», seufzte sie. «Die können jede Freistunde am Strand verbringen, Wahnsinn!»
Sie selbst hatte die Schule gegen den Protest ihrer Eltern nach der zehnten Klasse verlassen, obwohl ihre Schulnoten sehr gut waren. Aber sie hatte das Klein-Klein ihrer Lehrer einfach nicht mehr ausgehalten. Über einen Bekannten ihres Vaters war sie an die Zulassungsprüfung für die Banklehre gekommen, normalerweise nahmen die nur Abiturienten. Der Job war genau ihr Ding, sie hatte es aufgrund ihrer guten Leistungen sogar geschafft, die Lehrzeit auf zwei Jahre zu verkürzen.
«Was machst du nach’m Abi?», fragte das große Mädchen jetzt.
«BWL in London», antwortete der Seitenscheitelträger
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