Oma 04 - Omas Erdbeerparadies
Jeder Schritt musste mühsam erkämpft werden. Aber Arne stapfte weiter und weiter und vergaß irgendwann die Zeit und all seine Sorgen. Er war mit nichts anderem beschäftigt, als beharrlich einen Fuß vor den nächsten zu setzen.
Sechs Stunden später war er endlich an der Nordspitze Amrums angekommen und verdrückte sich in die Dünen, wo er sich einen Platz für sein Minizelt suchte. Er fand seine alte Lieblingskuhle wieder, die durch die ständigen Verwehungen allerdings einige Meter verrückt war. Als Jugendliche waren sie oft hier gewesen, er selbst war das letzte Mal mit Malte und Barni hierhergekommen, als sie um die vierzig waren, wenn er sich recht erinnerte. Er breitete seine Isomatte im Sand aus, legte sich darauf und schaute in den Himmel, der schon wieder freundlicher aussah.
Es gab nur ihn, den Sand, den Strandhafer, die Wellen und den Horizont. Er sah die Flut kommen und wieder gehen, die Sonne auf- und niedersteigen und ließ alle Gedanken zu, die ihm hochkamen. Seine alte Clique tauchte vor seinem inneren Auge auf, als sie alle jünger waren und Barni noch ernsthaft Rockmusiker von Beruf werden wollte. In der Nacht besuchten ihn sämtliche Frauen aus seiner Vergangenheit am Strand, sogar einige Mädchen aus seiner Schulzeit.
Ein Leben ohne Frauen hätte er sich nicht vorstellen können, sie hatten ihn immer fasziniert und viel beschäftigt. Dabei gab es kein bestimmtes Muster in seinem Kopf, kein «Beuteschema», dem er folgte. Wenn es die Richtige war, hatte er sich in Sportliche genauso verliebt wie in Unsportliche, in Schöne ebenso wie in solche, die nicht dem allgemeinen Schönheitsideal entsprachen. Genauso gerne, wie er mit Susanne an Bord ihres Bootes getanzt hatte, hatte er mit Svantje zur Musik der Sturmflut-Wölfe im Erdbeerparadies gerockt …
Und wohin führte das alles?
Wie kam er jetzt eigentlich darauf, Susanne mit Svantje zu vergleichen? War Svantje im Dessousladen etwa eifersüchtig auf Susanne gewesen? Nun ja, was er von sich gegeben hatte, war ja auch höchst missverständlich gewesen. Er wusste, dass Svantje Föhr am liebsten verlassen würde. Bevor das geschah, musste er sich über seine Gefühle klar werden, sonst war es irgendwann zu spät.
In den beiden folgenden Tagen tat er nichts, als den Wellen zuzuhören, die mit ungeheurer Energie an den Strand schlugen. Doch selbst die mächtigsten Wogen waren nicht in der Lage, den regelmäßigen Rhythmus von Ebbe und Flut zu unterbrechen. Je länger er in den Dünen lag, desto mehr fühlte er sich als Teil des gigantischen Gezeitenstroms. Das Meer übernahm nach und nach die Regie in seinem Kopf. Seine Gedanken quälten sich nicht mehr durch die gewohnten engen Kanäle, sondern fanden von selbst ihren Weg zum Horizont. Er musste nicht zwanghaft an die Zukunft denken, sondern er kam dort an, wo er gerade stand: am Wattenmeer. Am dritten Morgen wachte er bei Sonnenaufgang in den Dünen auf, blickte aufs Wasser und dachte an rein gar nichts. Die frische Luft durchflutete seine Lungen und breitete sich bis in die letzten Verästelungen seiner Blutbahnen aus. Er feierte diesen Glückszustand mit einem Schokoriegel, den er sich extra aufgehoben hatte. Dann kam die Sonne heraus, und er ließ sich von ihr einen halben Tag lang wärmen.
Am Nachmittag wanderte er durchs Watt zurück nach Föhr. Es war der Weg, den seine Mutter so oft zu ihrem Geliebten genommen hatte, wie er erst spät erfahren hatte. Seine Tochter Maria nahm ihn auch häufiger, und seine Enkeltochter Anna würde es ebenso tun. Wer immer diese Strecke zurücklegte, würde im Watt etwas Wichtiges für sich entdecken. Das war das ewige Versprechen, das diese Landschaft bereithielt. Er wusste nicht, was geschehen würde. Aber er spürte eine neue Kraft in sich, mit der er alles ausräumen konnte, was sich ihm in den Weg stellte.
[zur Inhaltsübersicht]
24.
Wir sind das Volk
Der sommerliche Garten hinter dem Erdbeerparadies war am frühen Abend der schönste Platz auf der Insel. Hier hatte einmal das große Erdbeerfeld begonnen, das der Kneipe ihren Namen gegeben hatte. Nun standen auf ungefähr tausend Quadratmetern Obstbäume, Sträucher und eine Wiese, die weitgehend sich selbst überlassen wurde. Die Abendsonne schien direkt auf den Tisch, den Jade sorgsam gedeckt hatte.
Jade blickte gedankenverloren auf die hauchzarten Netze, die unzählige Spinnen in den Apfelbaum gesponnen hatten und die nun gegen das Licht leuchteten.
Was Momme wohl gerade machte? Ob er
Weitere Kostenlose Bücher