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Oma 04 - Omas Erdbeerparadies

Oma 04 - Omas Erdbeerparadies

Titel: Oma 04 - Omas Erdbeerparadies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Mommsen
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Südost.
    Er beschloss, den Strand hinunter und an der Wasserkante entlang Richtung Norden zu marschieren. Feine, scharfe Sandkörner wehten ihm von den Dünen seitlich ins Gesicht und piksten ihm in die Wangen. Bei dem Wind würde er ohne Pausen bestimmt fünf, sechs Stunden brauchen, bis er am Ziel war.
    Plötzlich musste er an den Februar 1979 denken. Sein Kumpel Ekki betrieb damals noch sein Ein-Mann-Fuhrunternehmen in Berlin-Kreuzberg. Er hatte Arne gefragt, ob der ein paar technische Geräte aus West-Berlin abholen und nach Nordfriesland bringen konnte, wo eine bekannte Politrockband ihren Zweitwohnsitz hatte. Arne zögerte nicht und sprang in seinen knallroten Ford Transit, den er auf dem Festland bei der Freiwilligen Feuerwehr in Emmelsbüll gekauft hatte. Er war damals Mitte zwanzig und trug seine Haare bis zu den Schultern, wie es sich gehörte. Selbstverständlich nahm er seine Stieftochter Maria mit, die gerade mal vier war und lange, dicke Zöpfe bis zum Po trug. Ihre Mutter war nach Indien abgehauen, und das Kind klammerte sich eng an Arne, der ihm alle Aufmerksamkeit und Liebe der Welt schenkte.
    An die Rückfahrt aus West-Berlin erinnerte er sich noch so genau, als wäre es gestern gewesen. Es war der 28. Februar 1979, und er hatte ein Mischpult und mehrere Profi-Tonbandgeräte im Laderaum. Die Fahrt durch die DDR dauerte Stunden, die Transitstrecke war damals noch keine Autobahn, sondern eine Landstraße. Hinter Hamburg fing es an zu schneien, die Scheibenwischer schafften es kaum noch, die Scheibe freizuhalten. Die kleine Maria jubelte, es war das zweite Mal, dass sie in diesem Jahr so viel Schnee sah. Um den Jahreswechsel 1978/79 hatte es in Norddeutschland eine Schneekatastrophe mit meterhohen Verwehungen gegeben.
    Und nun ging es wieder los.
    Totales Chaos, er musste mit seinen Sommerreifen im Zickzack einspurig um die Schneeberge kurven und hoffen, dass er den Gegenverkehr rechtzeitig entdeckte, um ihm ausweichen zu können. Kurz vor Stadum in Nordfriesland verreckte ihm die Karre mit einem Motorschaden. Weil Maria vor Kälte laut schnatterte, bekam er Angst. Also rief er von einem Bauernhof aus die Band an, und der Bassgitarrist rückte mit einem riesigen Trecker an. Damit brachte er sie sicher über alle Schneeberge nach Dagebüll, wo sie die allerletzte Fähre erwischten (der Ford Transit wurde später in der WG auseinandergesägt und jahrelang als Gartenlaube benutzt).
    Auf Föhr ging gar nichts mehr. Ein Schneesturm raste derartig heftig über die Insel, dass es im Gesicht schmerzte. Arne stemmte sich mit seinem Koffer gegen den peitschenden Schnee und zog die kleine Maria, eng an sich gedrückt, mit sich. Kein Auto fuhr mehr, kein Mensch war auf der Straße zu sehen. Arne wollte zu seiner Wohnung in Oevenum, aber schon in Boldixum mussten sie vor einem haushohen Riesenschneeberg kapitulieren, der die gesamte Straße blockierte.
    Maria wollte und konnte nicht mehr.
    Im Erdbeerparadies brannte noch Licht. In der Kneipe harrte ein Dutzend Gäste aus, die nicht mehr nach Hause kamen und die Nacht hier verbringen mussten. Weil die Ölheizung ausgefallen war, hatte Jürgen, der Wirt, den Kachelofen angeworfen, der ständig mit Holz und ein paar alte Kohlen aus dem Keller gefüttert wurde. Überall im Raum standen Kerzen, in einer Ecke klimperte jemand auf der Gitarre. Jürgen brachte Decken, man teilte alles miteinander. Draußen heulte der Sturm, Maria schlief neben dem bullig warmen Kachelofen sofort ein, sie spielten zusammen Gitarre und sangen leise Lieder. Der Gastraum wurde in dieser Nacht seine sichere Höhle.
    Jürgen musste damals so alt gewesen sein wie er jetzt. Er fand ihn nett, aber irgendwie waren ihm Ältere damals immer fremd vorgekommen. Vielleicht, weil sie so anders aussahen und er ihre Erinnerungen nicht teilen konnte.
    Nun war er selbst älter geworden – aber war er wirklich schon alt ? Seine Mutter war alt, aber er doch nicht! Andererseits war Imke auf ihre Art immer so jugendlich geblieben, neugierig, spontan, humorvoll bis zur Schmerzgrenze – wie bekam sie das hin?
    Für einen Moment zog sich alles in ihm zusammen, es wurde richtig eng in seiner Brust. Ein paar wunderbare Jahrzehnte seines Lebens hatte er als Surfer unter freiem Himmel und auf dem Wasser verbracht. Kaum jemand auf diesem Planeten hatte so frei gelebt wie er. Aber jetzt schien ihn das Glück zu verlassen.
    Der Wind hatte sich gedreht und blies ihm jetzt über den Kniepsand direkt von vorne entgegen.

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