Oma 04 - Omas Erdbeerparadies
Süderende lag auch bei langsamer Fahrt nur ein paar Minuten entfernt. Jade war mit Oma Imke oft hier gewesen, ihre Familiengeschichte ließ sich bis zu den Walfängern zurückverfolgen, darauf war sie stolz.
Der Trauergottesdienst fand in der uralten kleinen Kirche St. Laurentii statt, die im 13. Jahrhundert erbaut worden war. Der Sarg wurde zwischen Blumen und Kränzen unter dem Kreuz abgestellt. Als Jade sich vorstellte, dass ihre Oma in dieser Kiste lag, stockte ihr der Atem.
Pastor Hinrich Prüß war ein älterer, großer Mann mit breiten Schultern, der ebenfalls einen hellen Sommeranzug trug. Jade war kaum in der Lage, ihm zuzuhören. Aber der Klang seiner Worte versprühte eine Zuversicht, die sie etwas ruhiger werden ließ.
«Manchmal sagte Imke zu mir: ‹Hinrich, meine Kirche ist nicht der Friesendom, sondern das Wattenmeer. Da bin ich Gott am nächsten.› Das durfte mir als Pastor natürlich nicht gefallen. Aber ich konnte sie gut verstehen.»
Jade kam das Rock-’n’-Roll-Bild aus den Fünfzigern in den Sinn, auf dem Imke ein richtig heißer Feger gewesen war.
Irgendwann werde ich auch mal in so einer Kiste liegen, dachte Jade. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.
Wie würden dann die Leute über sie reden?
Nach einem Choral und dem Vaterunser läuteten die Kirchenglocken, und die Familie erhob sich von ihren Plätzen. Jade konnte unter ihrem Tränenschleier kaum noch etwas erkennen. Omas Sarg wurde langsam an ihnen vorbeigefahren.
Draußen war der Himmel grau geworden und die Luft kühl. Jade schaute zum Horizont. Schon als Kind hatte sie sich die Frage gestellt, wozu man geboren wurde, wenn man doch sterben musste. Bis heute hatte ihr niemand eine überzeugende Antwort geben können. Man musste einfach darauf vertrauen, dass alles so richtig war, wie es das Leben vorsah, aber das fiel ihr schwer.
Wie betäubt trottete sie neben ihren Eltern Omas Sarg hinterher. Am Ende einer Gräberreihe sah sie bereits die böse, dunkle Grube, in die Oma nun heruntergelassen werden sollte. Sie hätte schreien mögen. Dass die Ränder mit Tannenzweigen und Blumen abgedeckt waren, milderte ihr Entsetzen nicht. Hier endete alles endgültig.
Die Familie stellte sich ums Grab. Pastor Prüß hob seine Stimme: «Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.»
Es folgten drei Erdwürfe mit einem kleinen Spaten.
«Ruhe in Frieden, Imke.»
Dann wurde der Sarg langsam in die Erde gelassen. Die Sargträger verneigten sich und gingen fort.
Plötzlich spürte Jade Panik in sich aufsteigen. Sie fürchtete, ohnmächtig zu werden und in die Grube zu fallen. Doch als sie an der Reihe war und vor dem offenen Grab stand, geschah etwas Unerwartetes: Sie wurde ganz ruhig. Ihr Blick auf den Sarg war klar. Es war fast so, als schlösse Imke sie in diesem Moment fest in ihre Arme.
Als sie aufschaute, sah sie, dass sich jenseits der Friedhofsmauer mehrere hundert Menschen schweigend versammelt hatten, alle in heller Kleidung. Als Erstes erkannte sie Momme. Ihre Blicke begegneten sich kurz, und sie spürte, dass er bei ihr war. Das tat gut. Neben ihm stand seine Tante Susanne, ein bisschen abseits konnte sie Svantje, Hauke aus Toftum und Polizeichef Gerald Brockstedt ausmachen. Alle respektierten den letzten Wunsch Imkes, im Kreise der Familie begraben zu werden, hatten aber das Bedürfnis, in respektvollem Abstand persönlich Abschied zu nehmen. Viele hielten Blumen in der Hand, die sie später auf das geschlossene Grab legen würden. Nun trat Arne zu ihnen an die Mauer und lud sie mit belegter Stimme zur Trauerfeier ins Erdbeerparadies ein.
Im Tanzsaal hatte Svantje mit den Schülerinnen, die normalerweise im Paradies bedienten, eine lange Kaffeetafel in U-Form aufgebaut. Nach der bedrückenden Stille auf dem Friedhof tat das Gemurmel im Saal gut. Es gab Kaffee und Butterkuchen, genau wie Oma es sich gewünscht hatte, dazu wurde Manhattan, das Nationalgetränk der Insel, in großen Gläsern gereicht. Jade ging erst einmal zur Toilette, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser abzuspülen. Danach fühlte sie sich schon besser. Als sie das Bad verließ, nahm sie flüchtig wahr, wie Susanne Lindner Arne in den Arm nahm und ihm tröstende Worte ins Ohr flüsterte. Alles wurde gut!
Sie setzte sich zwischen Arne und ihren Vater Cord, die Gäste hatten bereits begonnen zu trinken und zu essen und sich zu unterhalten. Plötzlich erhob sich Svantje und schlug mit
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