Oma dreht auf
Enkel.
Sönke stellte den Fokus schärfer. «Vor Christas Fenster steht Ocke mit seiner E-Gitarre. Er hat eine Anlage und einen Mikrophon-Ständer vor sich aufgebaut.»
Oma nickte, als hätte sie so etwas erwartet. «Sind die Gardinen bei Christa zu?»
«Da regt sich nichts.»
«Die wird sich wundern.» Oma lächelte.
Sönke behielt Christas Fenster fest im Blick. «Es passiert immer noch nichts.»
«Gib mir mal das Fernglas, bitte», sagte Imke und riss es ihm bereits aus der Hand. «Mist, ohne Brille kann ich wirklich nichts erkennen.»
«Was hat das alles zu bedeuten?», fragte Sönke.
Seine Oma strahlte ihn an, aber sie sagte nichts.
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21. Ständchen
Nach dem Gespräch mit Dr. Kohfahl fühlte sich Ocke wie ausgewechselt. Dabei war das, was der Psychologe ihm geraten hatte, nicht gerade höhere Mathematik gewesen: «Zeig ihr, was du fühlst, und sei ihr immer zugewandt.» Kohfahl hatte recht, Ocke hatte sich vor Christa eher versteckt, als ihr seine Gefühle offen zu zeigen. Davon abgesehen war er ohnehin niemand, der viel und gern redete. Und wenn es drauf ankam, verstummte er vollständig. «Wenn Sie kein Redner sind, reden Sie nicht!», hatte ihm Kohfahl geraten. «Das geht nur schief.»
Singen war etwas anderes. Ocke sang gerne und viel, wenn auch selten öffentlich. Damals auf hoher See hatte er oft mit seiner Gitarre an Deck gehockt und mit Seemannskollegen aus allen Ländern zusammen musiziert. Von philippinischen Chorälen bis zu Südseegesängen der Kiri-Batis hatte er viele Lieder gelernt, und er sang sie immer noch, wenn er allein im Taxi saß. Kohfahl hatte das aufgegriffen und auf den Punkt gebracht: «Werben Sie um Ihre Christa! Bringen Sie ihr ein Ständchen!» Für Ocke hörte sich das altmodisch im besten Sinne an: Es war eine alte Mode, die schon die Minnesänger im Mittelalter angewandt hatten.
Er hatte sich also seinen besten schwarzen Anzug angezogen – den Christa noch nie an ihm gesehen hatte –, dazu ein weißes Hemd. Vorher war er noch zum Friseur gegangen, seine ehemals wuseligen Haare waren nun sportlich kurz geschnitten, der Bart war verschwunden. Vom früheren Seebär war nichts mehr zu ahnen. «Es ist nicht wichtig, was Sie sagen, sondern was Sie zeigen», hatte Kohfahl ihm gesagt. «Und da können Sie ihr nichts vormachen, Ihre Körpersprache wird Sie immer verraten. Mit anderen Worten: Seien Sie ehrlich, das genügt.»
Ocke war sein Leben lang nach außen immer der Starke und Verlässliche gewesen, dem nichts etwas anhaben konnte. Was an sich nichts Schlechtes war. Er erinnerte sich, wie sein Kapitän auf einem Norwegentörn einmal seine Ehefrau mit an Bord genommen hatte. Als der Containerfrachter bei Windstärke neun heftig zu schaukeln begann, kam sie mit einer ausgebauten Tür über die engen Gänge gelaufen. Falls das Schiff sinken und sie es nicht rechtzeitig ins Rettungsboot schaffen würde, wollte sie etwas haben, woran sie sich festhalten konnte. Ocke hatte ihr die Tür mit gutem Zureden abgenommen und stundenlang mit ihr Mensch ärgere Dich nicht gespielt, damit sie abgelenkt war und der Kapitän an Bord sein Gesicht nicht verlor.
Er war stets der «Kümmerer» gewesen. Zu ihm waren die Kollegen mit Familienproblemen gekommen, und wenn es mit der Frau nicht mehr klappte, hatte er immer ein offenes Ohr gehabt. Nicht, dass er tolle Lösungen anzubieten hatte, aber die Seeleute fühlten sich schon besser, wenn da jemand vor ihnen saß, der einfach nur zuhörte. Er selbst hätte auch gerne so einen Zuhörer gehabt. In der Zeit mit Uschi war sie das gewesen, aber die Beziehung hatte ja nur ein Jahr gehalten, und wenn er seine große Fahrt abzog, sogar nur ein halbes. Geendet hatte sie in einer Katastrophe, wie er sie nicht noch einmal erleben wollte.
Jetzt stand er an Christas Fenster und klimperte die ersten Akkorde auf der E-Gitarre. Sie fühlten sich fremd an. «Es ist wichtig, dass Sie beim Singen den Boden spüren», hatte Kohfahl gesagt. Und tatsächlich, wenn er sich darauf konzentrierte, fühlte es sich so an, als ob seine Fußsohlen Wurzeln in die Erde schlugen. Seine zarte, helle Männerstimme kam sehr klar durch die Gesangsanlage. Er wollte sich nicht mehr verstecken, sondern ohne Schnörkel klarstellen, worum es ging. Deswegen hatte er sich den Soul-Klassiker
When a man loves a woman
ausgesucht. Seine Stimme war nicht besonders kräftig, aber authentisch:
When a man loves a woman, can’t keep his mind on nothing
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