Oma ihr klein Häuschen
zu voll genommen hatte. Der hat sich schon immer maßlos überschätzt.»
Dass die sich alle von früher kennen, vergesse ich immer wieder.
«Ich kenne die Geschichte von meiner Mutter anders», halte ich dagegen. «Angeblich hat Cord über die ganze Aktion nur gelacht und behauptet, er wollte schon immer mal mit einem Rettungsboot fahren.»
Aber Brodersen hat keine Lust darauf, dass seine Anekdoten richtiggestellt werden.
«Du siehst doch eigentlich ganz vernünftig aus, Sönke. Cord wohnt in Frankfurt und du in Hamburg, ihr seid viel zu weit weg, um das Haus in Schuss zu halten. Wir können das auf dem kurzen Dienstweg erledigen. Ich zahle jedem von euch zwanzigtausend bar in die Kralle, und ihr seid alle Sorgen los.»
Aus Spaß gehe ich darauf ein: «Also gut, hunderttausend für das Grundstück. Und was gibt es für das Haus?»
Er schaut mich mitleidig an: «Was für ein Haus?»
Es ist schon klar, er will es abreißen und etwas Teures dort hinbauen. Wenn es so läuft wie in jedem typischen Regionalkrimi, erteilt er sich die Baugenehmigung dazu quasi selbst. Das wäre ein Riesengewinn für ihn. Aber da geht wohl die Phantasie etwas mit mir durch. Trotzdem merke ich, dass ich langsam richtig sauer werde: «Vergiss es.»
Diesen Ton mag er gar nicht.
Und auch nicht, dass ich ihn das erste Mal zurückduze.
«Ich will in den nächsten Tagen Fortschritte sehen, sonst mache ich euch die Hölle heiß.»
«Was denkst du dir eigentlich?», erwidere ich. «Das ist allein unsere Sache!»
«Sie verkennen, dass wir hier Bestandsschutz haben», siezt er mich nun zurück. «Das Haus wird notfalls enteignet, wenn ihr euch nicht einigt. Zwei Tage noch, dann werden Tatsachen geschaffen.»
Ich stehe auf, bevor der Whisky kommt.
«Aber der Malt …», greint der Bürgermeister, als sei es ein Zaubertrank, der alles ändern würde.
«Du verträgst auch zwei», beruhige ich ihn und verlasse den Golfclub.
Der Fußweg durch Nieblum in der tiefen Abendsonne ist ein Genuss. Die Mischung aus viel Geld und gutem Geschmack ist eben unschlagbar. Ein Friesenhaus überbietet das nächste an diskreter Pracht. Ich mache einen Schlenker durch De Meere, einen friedlichen, kleinen Park mit Ententeich in der Mitte – und treffe prompt auf Spuren der Achtundsechziger in Nieblum. Ein großes weißes Haus trägt riesengroß die Jahreszahl 1968 am Giebel, auf einem braunen Schild steht in weißer Sütterlinschrift:
Haus des Gastes und der Jugend
. Hat man hier damals meine Mutter beim Headbanging gesichtet? Ich verlasse den Park und verschwinde im unscheinbaren westlichen Ortsrand, wohin sich kaum ein Tourist verirrt.
Inzwischen haben sich tiefe Schatten in unseren Garten gesenkt. Nur ein Teil wird noch hell erleuchtet, zwischen den hohen Gräsern erkenne ich zwei langstielige, rote Blumen. Unser Haus mit dem geflickten Dach fügt sich harmonisch ein. Plötzlich werde ich hellhörig: Ist das nicht Cords Stimme hinterm Haus? Ich schleiche mich ran und lausche. Und tatsächlich: Mein Onkel sitzt auf einer Bank und erzählt einem Mädchen in rotem Kleid und einem kurzgeschorenen Jungen mit schokoladeverschmiertem Mund eine seiner spannenden Piratengeschichten. Ich kenne sie. Als ich noch klein war, hat er sie mir auch erzählt. Dazu fährt er seine sonore Bassstimme auf tiefstes Volumen, ohne laut zu werden: «Fritz raubte Schiffe aus, die selber andere ausgeraubt hatten, und kassierte einen Teil der Ladung als Gehalt. Den Rest gab er an die eigentlichen Besitzer zurück …»
Ich lehne mich gegen die sonnenwarme Hauswand und höre weiter zu. Eine Libelle flirtet vor mir mit einem Schachtelkraut, ein Admiralsfalter setzt sich auf eine einzelne Sonnenblume.
Egal, was kommt: Wir müssen das Haus auf jeden Fall behalten.
8. Mini-Geständnis
Am nächsten Morgen stehe ich vor Omas Haustür am Sandwall und klingele Sturm. Sie macht nicht auf, obwohl wir doch zum Frühstück verabredet sind. Verstört starre ich auf ihr Klingelschild. Normalerweise würde ich mir keine Sorgen machen, aber nach gestern denke ich, dass wir auf Oma aufpassen müssen. Von Cord habe ich erfahren, dass bei ihr schon seit Wochen die Telefone heiß laufen wegen des Hauses und sie gar nicht mehr wusste, was sie sagen sollte. Kein Wunder, dass ihr die Lust auf die Geburtstagsfeier vergangen ist.
Ich setze mich auf einen Poller vor ihrem Haus und warte. Vielleicht ist sie ja nur kurz einkaufen gegangen. Über der Nordsee liegt ein weißer Seenebel, der immer
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