Oma ihr klein Häuschen
ich einen braungebrannten Mann vor unserer Eingangstür, der mit seiner randlosen Designerbrille aussieht wie ein Galerist oder Theaterregisseur. Fehlt nur noch ein lässiger Schal um seinen Hals. Der massige Mann ist hellblond, bestimmt Mitte sechzig und hat dicke, grobporige Wangen, dazu den passenden traurigen Bernhardinerblick. Neben ihm steht ein anderer, dessen alte hellblaue Jeans und kariertes Filzhemd von oben bis unten mit weißem Zementstaub eingesaut sind. Er trägt eine Basecap mit der Aufschrift
Petersen Beton
und dreckige Arbeitsschuhe. Cord ist offensichtlich nicht da, oder er macht nicht auf.
«Was wollen Sie auf meinem Grundstück?», grunze ich abweisend. Es ist das erste Mal, dass ich diesen Satz in meinem Leben sagen darf. Ich muss zugeben, es fühlt sich gut an.
Der Galerist nimmt seine Brille ab und lächelt mich an: «Bist du Sönke?»
«Wer will das wissen?»
«Brar Brodersen. Ich mache hier in Nieblum den Bürgermeister. Das ist Peter Schmidt.»
Der Eingesaute brummelt etwas Unverständliches zur Begrüßung.
«Der Vizebürgermeister?», erkundige ich mich nach seiner Funktion.
«Nee, sein Bauunternehmer …», stellt der klar.
«Was wollen Sie?», frage ich so unfreundlich wie möglich.
Der Bürgermeister lächelt: «Du bist der Sohn von Geeske, nicht?»
«Und?»
Ich bin jetzt wirklich nicht in Laberstimmung.
«Ich bin mit deiner Mutter zur Schule gegangen», seufzt er und setzt hinzu: «Die wilde Geeske …»
Er atmet laut und genüsslich durch die Nase aus.
Also ehrlich! Meine Mutter ist Optikerin in einer kleinen Fielmann-Filiale in Norderstedt bei Hamburg und seit achtunddreißig Jahren mit meinem Vater verheiratet – sie ist alles Mögliche, aber mit Sicherheit nicht wild. Und selbst wenn, bin ich der Letzte, der mehr darüber erfahren will. Brodersen gibt seinem Bauunternehmer einen Wink: «Wir telefonieren.»
«Jo. Tschüs.»
Weg ist er.
«Worum geht es?», drängle ich, während ich mit dem Schlüssel, den mir Cord gegeben hat, am Türschloss herumfummle. Bloß rein, bevor der mir Mamas Sexgeschichten im Detail ausbreitet.
Der Bürgermeister atmet erneut laut durch die Nase aus: «Weißt du, deine Mutter war eine wilde Tänzerin, Hard Rock, Heavy Metal, alles rauf und runter. In Nieblum waren wir auch Achtundsechziger, auf unsere Art.»
Da werde ich dann doch neugierig: «Sie meinen, es gab hier Demos? Sit-ins auf dem Deich? Freie Liebe im Schlick?»
«So ungefähr», behauptet er.
Die Phantasie geht mit mir durch. Ich stelle ihn mir mit langen strähnigen Haaren vor, einer klotzigen Hornbrille auf der Nase, die Maobibel auf dem Deich in Richtung Himmel gestreckt. Oder Flugblätter verteilend auf der Hafenmole: «Wehrt euch gegen die ausbeuterischen Fährpreise. Nulltarif für alle!» Nach dem Anti-Vietnamkrieg-Kongress in Utersum dann der legendäre Versuch, Passagiere umsonst mit einem alten Kutter nach Dagebüll zu schippern, jämmerlich gescheitert aufgrund eines Motorschadens, ausgerechnet die Fähre des Klassenfeindes musste alle an Bord nehmen …
Wohl kaum. Vermutlich hat er, wie in der Zeit üblich, eine Haarbürste in seiner Jeansjacke getragen und sein Mofa frisiert.
Mehr Achtundsechziger war der möglicherweise nie.
«Ich muss dann mal», verabschiede ich mich.
«Wir müssen was beschnacken», beharrt Brar Brodersen. «Im Golfclub gibt es einen alten Malt, den ich selbst aus Schottland mitgebracht habe. Sensationell. Ich lade dich ein.»
Wieso duzt der mich eigentlich die ganze Zeit? Und wieso sieze ich zurück? Ich bin Mitte dreißig!
«Schottland?», wiederhole ich nachdenklich.
«Als Bürgermeister kommt man viel rum in Zeiten der Globalisierung …»
Klar, genau wie die Bürgermeisterkollegen aus Shanghai und New York: Nieblum hat immerhin an die siebenhundert Einwohner, plus Badegäste.
«… Wattenmeerkonferenz, Nordseetagungen. Da sind die
local heroes
aus Nordfriesland gefragt. Wenn der Meeresspiegel steigt, sind wir als Erste fällig.»
«Meinen Sie, das werden wir bei einem Malt lösen?»
Er verzieht keine Miene. «Sicher.»
Mir ist jetzt so gar nicht nach Golfclub mit einem schwer atmenden Bürgermeister. Andererseits habe ich Oma versprochen, mich um das Erbe zu kümmern, und dazu gehört wohl auch, offizielle Kontakte zu pflegen. Also setze ich mich in das geputzte silberne Hybridauto von Toyota, was so gar nicht zu meinen Vorurteilen über den Bürgermeister von Nieblum passen mag. Nachdem er den Elektromotor
Weitere Kostenlose Bücher