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Oma klopft im Kreml an

Oma klopft im Kreml an

Titel: Oma klopft im Kreml an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Telscombe
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Leben hatte er Alpträume. Tagelang wartete er darauf, daß der Schlag fiel.
    Und nichts passierte. Kolja konnte das nicht verstehen. Vielleicht hatte er noch einmal eine Chance bekommen. Vielleicht würde die alte Dame beim nächstenmal, wenn er wieder ungezogen gewesen war, zuschlagen. Aber Kolja wußte nie, ob sie ihn beobachtete oder nicht. Er versuchte, zum Balkon hochzublinzeln und sie hinter den Kletterbohnen zu entdecken. Manchmal war ihm, als bewegte sich etwas auf dem Balkon, aber er war nie ganz sicher. Es war schon Tage her, daß er an Zöpfen gezogen oder seinen Freunden ein kühles Bad bereitet hatte. Das unheimliche Gefühl, die ganze Zeit beobachtet zu werden, verließ ihn nie.
    Als er fast davon überzeugt war, daß sie nicht mehr da war und ihn nicht mehr beobachtete, wurde Kolja eines Tages durch ein grellrot eingewickeltes Sahnebonbon überrascht, das direkt vor seine Füße fiel. Er hob es auf und sah zu dem Balkon hinauf, um seine Dankbarkeit auszudrücken - nicht so sehr für das Bonbon als für die damit gewährte Verzeihung.
    Er sah die alte Dame nie wieder, obgleich er jeden Nachmittag, wenn er zur Schule ging, im Torweg stehenblieb und zu dem Balkon hinaufwinkte in der Hoffnung, daß sie es sah. Er dachte viel an sie, zuerst als seinen Feind, dann als seinen Freund, aber er erwähnte sie nie.
    Miss Baker wußte, daß der Wagen nicht sehr beschädigt worden war. Und sie wußte, daß Kolja seine Strafe hatte. Es war überflüssig einzugreifen - genau wie sie nicht eingriff, als Gien Peters Fahrrad kaputt gemacht hatte und Bobbie die Schuld zuschob, oder als Zsigmond das Springseil der Mädchen völlig verknotete und sagte, es sei Igor gewesen. Sie waren eine andere Generation und mußten mit ihren Problemen allein fertig werden.
    Miss Baker, die friedlich nähend auf ihrem Balkon im vierten Stock saß und die Kinder im Hof beobachtete, hatte keine Ahnung, daß sie selbst inzwischen zum Gegenstand zahlreicher Diskussionen und Spekulationen in verschiedenen Teilen Moskaus geworden war. Nur zwanzig Meter entfernt hatte ein Inspektor im Wachhäuschen des Milizsoldaten gleich neben dem Torweg die Tageslisten geprüft und den diensttuenden Soldaten eingehend verhört.
    «Hier im Haus ist niemand, der nicht eingetragen ist, Genosse Hauptmann», wiederholte der untersetzte junge Milizsoldat. «Wie Sie sehen, hatten wir am Montag, dem siebenundzwanzigsten Mai, siebzehn unbekannte Besucher. Aber um vierundzwanzig Uhr, als der Offizier vom Dienst die Listen kontrollierte, hatten alle bereits das Gebäude verlassen.»
    «Ja, ja», sagte der Hauptmann gereizt. «Aber wenn nun mal der Fall eintritt, daß Sie einen Fehler gemacht haben, eingeschlafen sind, was übersehen haben, gibt es dann keine Möglichkeit, im Gebäude selbst zu kontrollieren?»
    «Wir können natürlich die Dienstmädchen fragen. Eine hat uns bereits gemeldet, daß vor zwei Tagen in Wohnung sechsundvierzig ein Gast über Nacht geblieben ist. Das war ein schwedischer Geschäftsmann, der kein Hotelzimmer kriegen konnte. Und in Wohnung siebenundzwanzig wohnt seit vierzehn Tagen eine ältere türkische Frau bei ihrer Tochter, der Frau des türkischen Rechtskonsulenten. Ab und zu bleiben auch Besucherinnen über Nacht in den Junggesellen-Appartements», sagte der junge Milizsoldat mit breitem Grinsen, «und -»
    «Also kontrollieren Sie alles noch einmal», sagte der Hauptmann. «Fragen Sie alle Dienstmädchen. Gehen Sie auf Nummer sicher.»
    Aber niemand dachte daran, Fenja zu fragen, die eine Putzfrau war und kein Dienstmädchen. Fenjas offizielle Aufgabe war, den Hof zu kehren und jeden Morgen die Treppen zu reinigen. Daß sie von Zeit zu Zeit kleine Nebenbeschäftigungen annahm, für Leute, die kein Dienstmädchen hatten, Fenster putzte oder abwusch, hatte noch niemand gemeldet. Sie kam und ging mit ihrer Einkaufstasche, sie schwatzte endlos im Hof über ihre Enkel, ihr neues Gebiß, die Eierpreise und die Gemüseknappheit - kurz, über all die Dinge, die sie interessierten. Ihr kam nie in den Sinn, die alte Dame zu erwähnen, die in der Wohnung im vierten Stock wohnte, seit die junge Barischna verreist war.
    Auch kam niemand auf den Gedanken, Kolja zu fragen, der der alten Dame hinter den Kletterbohnen im vierten Stock jeden Tag zuwinkte. Sie hatte bei der Sache mit dem Auto Gnade vor Recht ergehen lassen, und er hielt ihre Existenz schuldbewußt vor allen geheim.
    Der Milizoffizier schrieb seinen abschließenden Bericht, der zu den

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