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Oma klopft im Kreml an

Oma klopft im Kreml an

Titel: Oma klopft im Kreml an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Telscombe
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Satellitenstaaten reserviert war. Die Kinder dieser Familien hatten Russisch als gemeinsame Sprache und besuchten am Nachmittag eine russische Schule. Von ihren Spielen, die sie an ihre Jugendzeit erinnerten, war Miss Baker ganz gefesselt. Sie spielten Seilhüpfen, zeichneten Quadrate und Kreise auf den Asphalt und hüpften kreischend herum.
    «Mak, mak», schallten ihre Rufe durch den Hof. Eine Pause. Und dann in höchster Aufregung: «Durak, durak», wenn einer von ihnen auf die Kreidestriche getreten war.
    Gegen Mittag sah sie dann, wie die Kinder zur Schule gingen, altmodische Schulranzen auf dem Rücken, die Jungen in grauen Uniformen mit militärisch wirkenden Mützen, die Mädchen sittsam in langen schwarzen Strümpfen, braunen Uniformen, schwarzen Schürzen und weißen Kragen und Manschetten in viktorianischem Stil. Die meisten trugen die roten Halstücher der Jungen Pioniere.
    Wenig später klang das Geschrei englischer Stimmen über den Hof. Die Kinder der westlichen Diplomaten - aus Frankreich, Amerika, England, Argentinien, Schweden - kamen aus der anglo-amerikanischen Schule nach Hause. Sie waren ganz entschieden die lauteren. Bis auf eine kurze Mittags- oder Teepause stießen sie den ganzen Nachmittag über Kriegsrufe aus, bliesen auf Trillerpfeifen, brachen in Indianergeheul aus, klingelten mit Fahrradklingeln und drückten Hupen ihrer Spielzeugautos. Ihre Streitereien befaßten sich nicht mit so gegenständlichen und eindeutigen Objekten wie Kreidestrichen und waren deshalb viel schwieriger beizulegen.
    «Dede, ich hab dich eben erschossen.»
    «Das hast du nicht. Ich trage meine unsichtbare strahlensichere Weste.»
    «Das darfst du nicht. Wir spielen nicht Raumfahrt.»
    «Doch. Ich bin ein Astronautencowboy.»
    Allmählich lernte Miss Baker ihre Namen. Sie wußte, daß Tommy mit einer Erkältung zu Hause bleiben mußte, daß Martha am Samstag Geburtstag hatte, daß Zsigmond seine guten Hosen zerrissen hatte und Igor von Stolz über den Verlust seines ersten Zahnes erfüllt war. Obgleich Miss Baker jedes Kind im Haus kannte, merkte doch nur eines etwas von ihrer Gegenwart.
    Das war Kolja, Sohn eines bulgarischen Diplomaten und der Tyrann des Hofes. Kolja war es, der die Mädchen an den Zöpfen zog, dem Hausmeister den Schlauch wegnahm und auf seine Freunde richtete, mit seiner Schleuder auf die Fenster schoß.
    Eines Vormittags, als Kolja allein im Hof zurückblieb, während die andern schon von ihren Müttern zum Essen gerufen worden waren, erlag er einer Versuchung, die ihn schon lange geplagt hatte. Er kletterte in den Fahrersitz eines der im Hof geparkten Wagen und löste die Handbremse. Der Wagen rollte den leicht abfallenden Boden entlang und mit wachsender Geschwindigkeit auf die Betonmauer zu. Kolja versuchte, die Bremse anzuziehen, aber es war zu spät. Er kniff fest die Augen zu. Mit einem Knall, der den Weltuntergang zu signalisieren schien, stieß die Stoßstange gegen die Mauer.
    Kolja machte die Augen wieder auf und entdeckte, daß er immer noch im Auto saß und ihm nichts passiert war; er stieg also aus und sah sich den Schaden an. Ein Scheinwerfer war kaputt, ein Kotflügel war zerkratzt, und die Stoßstange war verbogen.
    Niemand war zu sehen, und niemand schien den Knall gehört zu haben. Eine Sekunde lang zögerte Kolja, und dann rannte er. Er war schon fast an der Haustür und in Sicherheit, als eine strenge Stimme von oben seinen Namen rief. Ihm war, als donnerte Gott aus seinen Wolken herab. Kolja war zu erschrocken, um hochzusehen, aber er blieb stehen und hörte zu. Die Stimme sprach Englisch, eine Sprache, die er nicht verstand, aber Kolja wußte sehr gut, was sie sagte, und war nur überrascht, daß sie seinen Namen kannte. Er flüchtete ins Haus und linste durch das Flurfenster. Alles, was er sah, war eine gebrechliche alte Dame, die hinter einer Hecke von Kletterbohnen auf einem Balkon stand. Aber Kolja war bedrückt, und sein Mittagessen schmeckte ihm nicht.
    Als er in seiner grauen Schuluniform und mit seinem Ranzen wieder in den Hof kam, standen mehrere Männer um das Auto. Kolja warf einen Blick zu dem Balkon im vierten Stock hinauf, und die alte Dame war immer noch da. Sie drohte ihm mit dem Finger, und er schlich sich, das Schlimmste befürchtend, schuldbewußt in die Schule.
    Die alte Dame würde es den Männern, die bei dem Auto standen, erzählen, und die würden es seinen Eltern sagen. Er war so still, daß seine Mutter ihm Fieber maß. Zum erstenmal in seinem

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