Oma packt aus
weinerlich. Aber ich hielt mich tapfer, fand ich. Fast ein wenig zu tapfer. Vielleicht würde der Zusammenbruch ja später kommen.
Opa freute sich bestimmt schon darauf, mit mir Tacheles zu reden, wenn ich nicht mehr ganz bei Sinnen war.
Irene hob die Schultern. »Ich war achtzehn und völlig verzweifelt. Dein Vater hatte mich verlassen und …«
»Mein Vater«, murmelte ich. Auf einmal erinnerte ich mich an den Zettel, den Irene damals in meiner Babydecke versteckt hatte.
»Das war also der Verbrecher, richtig?«
Alle schnappten nach Luft.
11. Nur nicht aus Liebe weinen
Papa fing sich als Erster. »Moment mal«, sagte er energisch. »Ich finde, das reicht. Und ich habe Hunger. Was gibt es zu essen?«
Dankbar zwinkerte ich ihm zu. Für den Augenblick hatte ich auch genug.
»Rinderleber«, brummte Grete. »Heute Mittag war ja keiner da. Muss nur wieder aufgewärmt werden.«
Mein Magen fand das gut. Seit dem Butterkuchen hatte er nichts mehr bekommen. Und Schocks machten hungrig. Das kannte ich schon.
»Vielleicht könnten Nele und ich vorher noch einen kurzen Spaziergang machen«, schlug Irene vor.
Eigentlich gern, dachte ich. Man lernte nicht alle Tage seine leibliche Mutter kennen. Spontan fielen mir ein paar Dutzend Fragen ein, die ich ihr stellen wollte. Zum Beispiel: Hast du mich geliebt, als ich auf die Welt kam? Warst du traurig, als du mich weggegeben hast? Liebst du mich heute?
Aber dann bemerkte ich, wie weiß Mamas Nasenspitze war. Gleichzeitig trat mir Jan unter dem Tisch gegen das Schienbein.
Aua! Ist ja gut! Ich weiß, wohin ich gehöre!
»Im Augenblick möchte ich lieber hier bei meiner Familie bleiben«, beschied ich Irene.
»Oh … das verstehe ich natürlich. Soll ich mich zurückziehen?«
Niemand sprach es aus, aber alle dachten dasselbe.
Und Irene begriff. Ein Punkt für sie.
»Wir sehen uns morgen«, sagte sie und stand auf. Wenig später fuhr ihr Wagen vom Hof. Rüdiger hatte sie dagelassen. Als Versprechen vielleicht, dass sie wiederkommen würde. Oder als Drohung.
Rinderleber mit Zwiebelringen, Bratkartoffeln und Apfelmus. Es brauchte nicht viel, um unsere kleine Welt wieder geradezurücken. Alle aßen mit gesundem Appetit, und Mamas Nasenspitze bekam wieder Farbe.
Ich fand, es war Zeit für eine kleine Ansprache. »Ihr sollt wissen, dass ich zu euch gehöre. Ihr seid meine Familie, und ich werde euch nie verlassen.«
»Das wäre ja auch noch schöner«, murmelte Papa.
»Einmal reicht wohl«, sagte Grete.
Musste die immer so pingelig sein? Ich hatte gerade mal verdrängt, dass ich vor dreizehneinhalb Jahren das Weite gesucht hatte.
»Wenn du immer nur auf Nele rumhackst«, sagte Marie zu Grete, »darfst du dich nicht wundern, wenn sie fortgehen will.«
Bevor es sich die beiden in ihrem Streit gemütlich machen konnten, meldete sich Jan zu Wort. »Bei mir gibt es auch Neuigkeiten.«
Ich stieß den Atem aus, den ich seit einiger Zeit angehalten hatte. War mir bloß nicht aufgefallen. Oh ja, bitte, ein Themenwechsel, damit wir alle mal Zeit hatten, den Schock zu verdauen.
Jan erzählte von seinen geschäftlichen und privaten Plänen. Mama und Papa nickten dazu wohlwollend, Marie auch.
Grete natürlich nicht. »Wenn das man gut geht.«
Mein Bruder holte tief Luft. Gleich würde er seine Kalkulation darlegen. Aber Papa winkte ab.
»Dafür ist morgen auch noch Zeit. Ich für meinen Teil habe genug.« Er stand auf. Mama folgte ihm aus der Küche.
»Ihr beide könnt auch schlafen gehen«, sagte ich zu Grete und Marie. »Den Abwasch übernehmen Jan und ich.«
Ich dachte mir, zu zweit würden wir noch einmal in Ruhe die Ereignisse durchsprechen, und ich könnte auf diese Weise ein wenig von dem Chaos in meinem Kopf ordnen.
Doch dann war keinem von uns nach Reden zumute. Wir schrubbten Töpfe und Pfannen, wuschen das Geschirr, trockneten es ab, wischten den Tisch und räumten die Küche auf.
Einträchtig, aber stumm.
Und ich merkte, das war genau das, was ich brauchte. Mit meinem geliebten Bruder einfach nur zusammen sein. Endlich gingen wir auch auf unsere Zimmer, und erst spät am Abend hörte ich, wie ein Auto auf den Hof fuhr. Irene war zurückgekehrt.
Bevor ich einschlief, dachte ich an Paul. Ob er wohl auch schon herausgefunden hatte, was ich wusste?
Bestimmt.
Und warum war er dann nicht zu mir geeilt, um mir in diesen schicksalsschweren Stunden beizustehen?
Gute Frage. Jetzt war ich wieder hellwach.
Shit!
Vielleicht wurde ihm ja alles zu viel.
Er wünschte
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