Oma packt aus
hielt mich ein Stück von sich ab. »Sag mal, geht’s noch? Denkst du etwa, er macht dir irgendwelche Vorwürfe? Was kannst du denn für den ganzen Schiet?«
Eigentlich nichts.
Jan stellte sein Glas ab. »Du trinkst die Flasche leer, ich muss noch fahren.«
Er wollte schon weg? Mist!
»Wohin denn?«
»Nach Lüneburg. Ich bringe dich zu Paul.«
»Nur über meine Leiche.«
»Wenn’s sein muss, mache ich auch das. Du kennst mich.«
»Jan!«
Mein Bruder zuckte mit den Schultern. »Die größten Liebesgeschichten sind schon wegen ’nem blöden Missverständnis den Bach runtergegangen. Das wird meiner großen Schwester nicht passieren.«
Ich ließ mir nachschenken.
»Wenn du meinst«, murmelte ich.
»In zwanzig Minuten bin ich wieder da. Bis dahin hast du geduscht und dir was Flottes angezogen. Frisur und Styling erledige ich.«
Jan hatte das Kommando übernommen. Fühlte sich gut an.
Meine Lähmung fiel endlich von mir ab, und ich beeilte mich, ins Badezimmer zu kommen.
Geschehe, was wolle, dachte ich. Alles ist besser als diese lähmende Ungewissheit.
Es kam ziemlich dicke.
Auf der Fahrt summte Jan ein Lied. Immer dasselbe. Ich hielt mir die Ohren zu.
»Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt auf Erden nicht nur den einen. Es gibt so viele auf dieser Welt, ich liebe jeden, der mir gefällt.«
Mein Bruder konnte Zarah Leander perfekt imitieren.
»Muss das sein?«
»Entschuldigung. Ich habe dabei gar nicht an dich gedacht.«
»Wer’s glaubt …«
»Ehrlich, Kröte. Das war mein Motto, als ich noch mit Eike zusammen war. Und jetzt habe ich halt immer noch den Ohrwurm.«
»Schon gut.«
Ich stellte das Radio an, fand NDR 2 und ließ uns mit Popmusik berieseln.
»Ich warte im Wagen auf dich«, sagte Jan, als er vor der Kanzlei hielt. »Du gehst besser allein hoch.«
Recht hatte er.
»Ich weiß aber nicht, wie lange es dauern wird.«
»Kein Problem.« Er holte sein iPhone raus. »Ich muss sowieso noch einige Mails checken.«
Vier Minuten später war ich wieder da.
12. Die München-Connection
Ein Blick auf mich reichte Jan, um den Motor zu starten. Wir verließen die Stadt. Irgendwann bog er in eine Nebenstraße ein und hielt vor einem verlassenen Gehöft.
»Erzähl.«
»Paul war nicht da«, presste ich hervor.
»Ja und? Dann war er wahrscheinlich im Gericht oder bei einem Mandanten.«
»Nein.«
Jan wartete. Ich musste ein paar Mal tief durchatmen.
»Die Sekretärin hat mir gesagt, er sei verreist.«
»Ohne dir was davon zu verraten?«
»Ja.«
»So’n Schiet.«
Fand ich auch.
»Und konntest du herausfinden, wohin er gefahren ist?«
»Nein. Und er ist schon Mittwochfrüh aufgebrochen.«
Jan stieg aus und lief neben dem Auto hin und her. Ich folgte seinem Beispiel. Die frische Luft tat gut.
»Da stimmt etwas nicht«, erklärte er schließlich. »Paul Liebling, der mit unbekanntem Ziel verreist? Der schon seit drei Tagen verschwunden ist? Das passt nicht zu dem Mann, den ich kenne.«
»Überhaupt nicht.«
»Der macht nichts Spontanes. Der ist ein Planer.«
Hm. Hörte sich nicht wie ein Kompliment an.
»Ob es was mit Irene zu tun hat? Überlege doch mal. Am Dienstagabend hat sie der Familie die Wahrheit gesagt, und am Morgen danach fährt Paul weg.«
»Möglich«, entgegnete ich ratlos.
»Und er gibt kein Lebenszeichen von sich?«
»Doch. Er ruft zweimal am Tag in der Kanzlei an und lässt sich auf dem Laufenden halten. Außerdem hält er per Mail Kontakt zu seinen Mandanten.«
Jan sprach aus, was ich dachte: »Aber nicht zu dir.«
»Nein, nicht zu mir.« Ich heulte los. »Jetzt kann ich ihn gar nicht mehr verlassen. Das hat er ja schon erledigt.«
Dazu fiel ihm kein Gegenargument ein.
Ich setzte mich an den Straßenrand und brütete dumpf vor mich hin. Sehr, sehr lange. Mein Bruder beschäftigte sich wieder mit seinen Mails. Konnte ich ihm nicht verdenken. Er hatte ja auch sein eigenes Leben.
Plötzlich stieß er einen Pfiff aus.
»Ich wusste gar nicht, dass er meine Mail-Adresse hat.«
»Wer?«
»Wahrscheinlich habe ich sie ihm gegeben, als wir die Erbschaft geregelt haben.«
»Wem?«
»Na, Paul.« Er sah mich an. »Hör gut zu. Hier steht: Bitte sag Nele, sie soll sich keine Sorgen machen. Es geht mir gut, aber ich muss mich um ein Problem kümmern, das keinen Aufschub duldet.« Jan zögerte eine Sekunde. »Und sage ihr, ich liebe sie.«
Mit einer einzigen schnellen Bewegung riss ich ihm das iPhone aus der Hand.
»Von Liebe steht hier nichts!«, rief ich
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