Oma packt aus
putzmunteren Enkelkindern, die auf Omis Knien herumhüpften. Dann hätte ich das ja noch verstehen können. Aber so ein Stress für eine abtrünnige Rebellin mit halbitalienischem Stammbaum und katastrophalem Liebesleben? Ladys, das lohnt sich doch nicht!
Offenbar waren Mama und Irene anderer Meinung. Die sahen etwas in mir, das mir selbst verborgen blieb.
Na gut, dann bitte.
Beide gaben eine Art Zischen von sich, das nun auch die anderen Fahrgäste auf sie aufmerksam machte.
Jan stieß ein Seufzen aus, Marie schaute stumm, Grete murmelte etwas, das klang wie: »Gib’s ihr, Heidi!«
»Na, na«, meinte Papa.
Nur Rüdiger schien anderweitig beschäftigt. Sein Riesenkopf war abgetaucht.
Weder Irene noch Heidi achtete auf uns.
Mama läutete die nächste Runde ein. »Wie konntest du dich überhaupt mit einem Mafioso einlassen!«
»Pah!«, machte Irene. »Das hab ich ja vorher nicht gewusst. Marcello war einfach nur ein netter Pizzabäcker.«
»Pizza, pfui Deibel«, bemerkte Grete, wurde aber überhört.
»So etwas merkt man doch!«, behauptete Heidi.
»Blödsinn.«
Der Meinung war ich auch, hielt mich aber raus. Mama hätte denken können, ich wolle ihr in den Rücken fallen.
»Du solltest mir dankbar sein«, sagte Irene fest.
»Dankbar? Ha!«
Mamas Stimme war sehr hoch und laut. Irene wich zurück.
»Immerhin habe ich dir eine kleine Tochter geschenkt.«
»Geschenkt? So nennst du das?«
»Ganz genau.«
»Ich nenne das weggeben.«
»Also …«
»Verlassen!«
»Das ist …«
»Wegwerfen!«
»Es reicht!«
»Dem sicheren Tod preisgeben!«
Rock ’n’ Roll! Mama war jetzt richtig in Fahrt.
»Du hast ein kleines unschuldiges Wesen ausgesetzt!«
Irene sagte nichts mehr. Sie weinte. Nicht laut, nicht schluchzend. Nein, ganz still, ohne eine Regung. Die Tränen liefen über ihre Wangen und tropften in ihren Schoß.
Ich schaute mich um. Hätte gern irgendwas Tröstendes gesagt. Mir fiel bloß nichts ein. Mamas Worte hatten mir auch zugesetzt. Eine schmale Hand schob sich auf Irenes Arm. Marie hatte sich ebenfalls umgedreht.
»Ein Kind abzugeben ist das Schwerste«, flüsterte sie.
Irene sah sie groß an. Die Tränen trockneten auf ihrem Gesicht, Verwunderung lag in ihrem Blick. Aber die Frage, die ihr sicherlich brennend auf der Zunge lag, stellte sie nicht.
»Meine Schwester ist senil!«, trompetete Grete. Sie gab ihre königliche Haltung auf und war wieder ganz die Alte. »Als ob die wüsste, wovon sie redet!«
Auf einmal sagte niemand mehr was. Ein großes Geheimnis der Lüttjens’ waberte schwer durch den Kleinbus. Außer Irene kannten es alle, aber das wussten Grete und Marie nicht.
Ziemlich kompliziert.
Nur der Motor war jetzt zu hören. Und ein Rascheln. Äußerst verdächtig. Wieder roch ich Pflaumenkuchen. Im nächsten Moment rieselten ein paar Krümel in meinen Nacken.
»Rüdiger, nein!«, rief Irene noch.
Zu spät. Unser naschhafter Reisegefährte hatte Beute gemacht. Ich drehte mich um und sah gerade noch, wie ein Rest Butterbrotpapier in seinem Maul verschwand.
»Was war das?«, fragte ich.
»Pflaumenkuchen«, bestätigte Marie leise. »Den habe ich gestern Nacht noch gebacken und unter den Sitz gelegt.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Woanders war kein Platz mehr«, fügte sie hinzu.
»Blöder Hund«, erklärte Grete.
Irene verteidigte ihren Rüdiger. »Was kann mein Dicker dafür, wenn die Verführung direkt vor seiner Nase liegt?«
Papa fuhr auf den nächsten Parkplatz. »Wir machen eine Pause und warten, bis Rüdiger die Verpackung wieder losgeworden ist.«
Immerhin, unsere erste Etappe hatte uns schon bis kurz vor Bispingen geführt. Ich fragte mich, ob es in Apulien auch Weihnachtsbäume gab.
Alle vertraten sich die Beine, bis Rüdigers Art des Wiederkäuens zum Einsatz kommen würde.
Ich bemerkte, wie fast jeder vom anderen fortstrebte. Nur Jan und ich blieben zusammen.
»Ich würde übrigens auch gern wissen, warum Irene erst jetzt aufgetaucht ist«, sagte er.
Ich nickte. »Habe ich mich auch schon gefragt.«
Wir erfuhren es, nachdem die ganze Familie wieder im Kleinbus Platz genommen hatte.
»Ich bin letztes Jahr krank gewesen«, erklärte Irene von der hinteren Sitzbank aus. »Leukämie. Monatelang war nicht sicher, ob ich überleben würde.«
Ich warf Grete einen langen warnenden Blick zu. Wehe, du sagst jetzt etwas Falsches! Ausnahmsweise benahm sich meine Oma wie ein menschliches Wesen und schwieg.
»Im Krankenhaus hatte ich viel Zeit zum Nachdenken«,
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