Oma packt aus
Irgendwann gab mein Blackberry keinen Ton mehr von sich. Der arme Akku war so leer wie nie.
Richtig zu mir kam ich erst im Laufe des nächsten Vormittags.
»Oh, Berge«, war das Erste, das ich von mir gab. »Wo sind wir?«
»Kurz hinter Bozen«, sagte Papa, der wieder am Steuer saß.
Jan hing neben ihm im Sicherheitsgurt. Er war definitiv noch nicht fahrtüchtig. Von Mama erfuhr ich, dass Papa mich quer durch die Hotelhalle zum Bus getragen hatte.
Astrein. Im Kiefers konnte ich mich im Leben nicht mehr sehen lassen.
»Und bei Jan mussten zwei Gepäckträger helfen. Was habt ihr gestern Nacht bloß gemacht?«
»Nichts Besonderes«, murmelte ich und hoffte, es stimmte wirklich, was Herr von Hirschhausen behauptete: Dass die Leber mit ihren Aufgaben wächst.
»Suffköppe, all beide«, stellte Grete fest, die selbst ausgesprochen munter klang.
Ich wandte mich zu ihr um und ignorierte das scheppernde Geräusch in meinem Kopf. »Schönen guten Morgen, liebe Oma.«
Es heißt ja, mit ausgesuchter Höflichkeit könne selbst der größte Miesepeter besänftigt werden.
Wer das behauptet, kennt Grete Lüttjens nicht.
»Dreh dich bloß wieder um, du siehst ja aus wie der Leibhaftige«, knurrte sie.
Irene lächelte mir zu, ich lächelte zurück. Rüdiger schlief im Sitzen. Sein Riesenkopf baumelte sacht hin und her. Mama neben mir wirkte frisch, und bei Marie entdeckte ich ein Schmunzeln auf den Lippen.
»Wie schön es hier ist«, sagte sie staunend. Bestimmt war sie froh, dass wir Bayern mit seinen traurigen Erinnerungen hinter uns gelassen hatten.
Eine Stunde später gab es eine kurze Diskussion zwischen meinen Eltern über einen Abstecher nach Venedig. Mama war dafür, Papa dagegen.
»Das wird uns mindestens einen Tag kosten«, erklärte er und fuhr auf Höhe Verona stur geradeaus weiter.
»Aber ich wollte die Stadt so gern mal sehen. Irgendwann versinkt sie im Meer.«
»Sicher. Morgen ist sie weg.«
Irene lachte, ich war zu müde.
»Schade«, murmelte Mama. »Es wäre so schön romantisch geworden.«
Papa erwiderte etwas, aber ich hörte nicht mehr hin. Gerade stellte ich fest, dass mein Blackberry kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Ich rüttelte Jan wach und befahl ihm, das Ladegerät an die Buchse des Zigarettenanzünders zu stecken.
»Da hast du aber Glück, dass der noch funktioniert«, meinte Jan gähnend. Im nächsten Moment hörte ich, dass in der vergangenen Nacht drei Anrufe eingegangen waren. Ich beugte mich vor und starrte auf das Display.
Von Paul!
»Oh nein!«
Da! Eine Nachricht! Um vier Uhr früh eingegangen!
»Liebe Nele, du hast dreiunddreißig Mal versucht, mich anzurufen«, stand da.
Echt? So oft? War mir gar nicht aufgefallen.
»Bitte gib mir noch etwas Zeit. Ich melde mich, sobald alles geklärt ist. In ein paar Tagen bin ich wieder in Lüneburg. Love, Paul.«
Meine Finger flogen schon über die Tasten, um ihm zu erklären, warum er mich in Lüneburg nicht antreffen würde. Weil ich nämlich auf dem Weg nach Italien war, um meinen Vater kennenzulernen.
Dann hielt ich inne. Ich sollte ihm Zeit geben.
Na gut.
Musste mich halt beherrschen und mich ganz doll an dem einen Wort festhalten – Love.
Stunde um Stunde ging die Fahrt weiter in Richtung Süden. Wir machten nur wenige Pausen, und als wir Bologna hinter uns gelassen hatten, waren wir alle erschöpft.
»Wir können in Pesaro übernachten«, schlug Irene vor. »Ein Freund von mir führt dort ein Hotel. Ich rufe ihn gleich mal an.«
Niemand protestierte. Die Aussicht, sich eine ganze Nacht lang ausstrecken zu können, war zu verlockend, und die geballte Feindseligkeit gegen Irene hatte sich ohnehin gelegt.
An diesem Abend war niemand unternehmungslustig, ich am wenigsten. So sahen wir von der Geburtsstadt Gioacchino Rossinis nur ein paar hübsche Villen aus den Zwanzigerjahren und ein Stück elegante Strandpromenade.
Sehr früh am nächsten Morgen ging die Fahrt weiter, und je tiefer wir in den Süden gelangten, desto schweigsamer wurden wir. Ich glaube, wir hatten alle Schiss. Rüdiger mal ausgenommen. Der Arme litt unter Bewegungsmangel. Still sitzen war nicht mehr drin. Mal reichte sein Kopf bis nach vorn zum Armaturenbrett, mal hatte ich seine Rute als lebendigen Ventilator im Gesicht. War gar nicht so unangenehm, da die Temperaturen draußen mit jedem Kilometer anstiegen und Ashokas Bus natürlich nicht über eine Klimaanlage verfügte. Unterzuckerung hatte Rüdiger auch. Ständig schnüffelte er im Wagen herum
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