Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Landesinneren, die sich vor der Kamera erstrecken, wirken zeitlos. Ein junger Mann in zweireihigem Jackett, das scharfgeschnittene Gesicht von einem Hut überschattet, sitzt aufrecht im Sattel. Plötzlich wendet er den Kopf und lässt den Blick über eine mondartige Landschaft aus Staub und Fels schweifen. Er sieht acht Reiter auf einem Hügel auftauchen, deren Silhouetten sich vor dem Himmel abzeichnen.
»Die Mafia.« Der junge Mann spricht das unheimliche Wort laut zu sich selbst und presst dann entschlossen die Kiefer aufeinander. Sein Name lautet Guido Schiavi. Er ist der Richter vor Ort, ein Vertreter des Gesetzes. Es ist die Konfrontation, die er erwartet hat.
Die Mafiosi, auf sorgfältig gestriegelten Vollblutpferden, reiten den Hügel herunter und bewegen sich in imposantem, kurzem Galopp auf den Richter zu. Ein dynamischer Soundtrack mit Bläsern und Streichern begleitet ihren Ritt. Als die Reiter näher kommen, sieht Schiavi, dass die Männer in Kord und Barchent gekleidet sind; jeder hat sich die flache Mütze tief ins zerklüftete ausdruckslose Gesicht gezogen; und ein jeder trägt eine Flinte über der Schulter.
Die Männer der Mafia bleiben auf einer niedrigen Brücke stehen. Ihr Boss ist ein gewisser Turi Passalacqua, unverwechselbar auf seinem edlen weißen Pferd. Er zieht höflich die Mütze vor dem Richter.
»Guten Tag,
voscenza
. Willkommen auf unserem Land. Ihr erweist uns eine große Ehre.«
»Ihr seid sehr jung, Herr. Darüber sind meine Freunde und ich sehr froh. Wer jung ist, hat ein reines Herz. Ihr seid intelligent, und ich bin sicher, dass Ihr längst begriffen habt, wie es hier zugeht. Es ist schon seit über hundert Jahren so, und alle sind es zufrieden.«
Richter Schiavi zeigt sich unbeeindruckt. Es gebe Menschen, entgegnet er, die ganz und gar nicht »zufrieden« seien: zum Beispiel die Opfer von Mord und Erpressung und ihre Angehörigen; oder die geknechteten Bauern und die Arbeiter in den Schwefelminen. Der Mafioso zuckt mit keiner Wimper:
»Jede Gesellschaft hat ihre Fehler. Außerdem lässt sich unter Ehrenmännern immer eine Einigung erzielen … Ihr braucht Eure Wünsche nur zu äußern.«
Jetzt ist es der Richter, der sich nicht beirren lässt. Im Ton verhaltenen Trotzes entgegnet er, dass er nur einen Wunsch, eine Pflicht kenne: dem Gesetz Genüge zu tun.
Es kann keinen Kompromiss geben. Zwei entgegengesetzte Wertesysteme haben ihre Streitkräfte aufmarschieren lassen. Ein heftiger Zusammenstoß zwischen Staat und Mafia ist unvermeidlich. Dem
capomafia
Turi Passalacqua bleibt nur, sein Credo zu wiederholen:
»Ihr seid ein mutiger Mann, aber hier sind
wir
das Gesetz, so will es die Tradition. Sizilien ist eine Insel. Die Regierung ist weit fort. Und wären wir nicht hier, mit unserer eigenen Art von Strenge, würden Kriminelle hier am Ende alles verderben; genau wie das Weidelgras den Weizen verdirbt. Niemand wäre mehr sicher im eigenen Haus. Wir sind keine Verbrecher. Wir sind ehrbare Männer: so frank und frei wie die Vögel am Himmel.«
Bei diesen Worten schwellen die Bläser und stürmischen Streicher, die den Ritt der Mafia zu Beginn der Szene begleitet haben, wieder an. Der Zuschauer sieht, wie die Ehrenmänner die Pferde wenden und davongaloppieren.
Im Italien der 1940 er Jahre waren Filme weit mehr als pure Unterhaltung. Aus Protest gegen Mussolinis Versuch, den Import von ausländischen Filmen zu kontrollieren, hatten die amerikanischen Studios den italienischen Markt boykottiert. Während der letzten fünf Jahre unter faschistischer Herrschaft mussten die Italiener daher auf ihre wöchentliche Dosis kalifornischen Zelluloids verzichten. Als nach der Befreiung die Filmtheater ihre Pforten wieder öffneten und endlich Nachschub aus Hollywood kam, drängten die Italiener bald wieder in die Kinos – mit größerer Begeisterung als in jedem anderen Land Europas. Der Glamour von Rita Hayworth und Glenn Ford beinhaltete für sie die Verheißung von Freiheit und Demokratie für ihr kriegsgebeuteltes Land, das vom Zusammenbruch des Faschismus demoralisiert war.
Und doch konnte sich ein Volk, das solch traumatische Veränderungen durchlebt hatte, niemals ganz mit dem zufriedengeben, was ihm die amerikanischen Filmstudios vorsetzten. Die Jahre zwischen 1945 und 1950 wurden daher von der heimischen Filmindustrie geprägt, der ungeschönten Poesie in Roberto Rosselinis
Rom, offene Stadt
oder in Vittorio de Sicas
Fahrraddiebe
. Neorealismus lautete das Wort der
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