Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
beklagte, dass wohlsituierte Journalisten aus dem Norden sich einen Spaß daraus machten, die Kalabresen als eine »Horde Wilder« hinzustellen. Die wahre Ursache von Serafino Castagnas Irrsinn seien Armut und Ausbeutung. Warum wollte das niemand begreifen?
Bruchstücke einer etwas weit hergeholten Erklärung für Castagnas Bluttat fischte man auch aus der Quelle des Dorfklatsches. Der Erste, der mit den Journalisten redete, war ein Tagelöhner. Er drückte sich an einer Mauer herum und weigerte sich, seinen Namen zu nennen, murmelte aber vorsichtig etwas von einer Geheimgesellschaft in Presinaci. Doch die Presse blieb skeptisch:
»Die Leute munkeln, dass Serafino Castagna ein Mitglied der ›Ehrenwerten Gesellschaft‹ sei, der kalabrischen Mafia. Doch die Existenz dieser Organisation ist höchst umstritten. Angeblich sei Castagna von ihr beauftragt worden, bis zum 20 . April einen Mann zu beseitigen, der sich mit ihr angelegt hatte. Doch wie es aussieht, entbehren diese Gerüchte jeder Grundlage.«
Das Ungeheuer von Presinaci konnte überhaupt kein Mitglied der kalabrischen Mafia sein, weil es dergleichen nämlich nicht gab, ganz einfach. Hierin waren sich maßgebliche Stimmen einig.
Dann, etwa drei Wochen nach seiner Flucht, schickte Castagna einen 40 Seiten langen Bericht an die Carabinieri, in dem er sich als ein vollwertiges Mitglied der sogenannten »Ehrenwerten Gesellschaft der Spange« zu erkennen gab, auch bekannt als »Mafia«.
Nach 60 Tagen wurde Castagna schließlich verhaftet. Sobald er in den Händen der Polizei war, sagte er alles, was er über die Ehrenwerte Gesellschaft wusste, versorgte die Behörden mit vielen Namen und belastenden Beweismitteln. Binnen 48 Stunden nach Castagnas Festnahme wurden 50 Mitglieder der kriminellen Bruderschaft inhaftiert. Weitere Festnahmen folgten. Offenbar war die Existenz der kalabrischen Mafia doch nicht so »umstritten«.
Im Gefängnis arbeitete Serafino den Bericht, den er den Carabinieri geschickt hatte, zu einer Autobiographie aus. Er war in der Tat das erste Mitglied der kalabrischen Mafia, das je seine eigene Geschichte erzählt hatte.
Du musst töten
, wie der Titel von Castagnas Autobiographie lautet, löste nicht nur das Rätsel, warum ihr Verfasser seinen verzweifelten Amoklauf begonnen hatte, sondern war zudem ein überaus wichtiges Zeitdokument: Sie vermittelte Italiens Nachkriegsgesellschaft aufschlussreiche Informationen über die Struktur der kriminellen Bruderschaft, die heute als ’Ndrangheta bekannt ist.
Serafino Castagna schrieb, er sei 1921 auf die Welt gekommen und in einer Familie geknechteter Bauern aufgewachsen. Er wurde aus der Schule genommen, um Ziegen zu hüten, wurde aufgrund seiner Behinderung unentwegt gehänselt und von seinem gewalttätigen Vater malträtiert. Mit 15 Jahren hörte er zum ersten Mal von der Ehrenwerten Gesellschaft. Schon in diesem Alter rackerte er sich tagein, tagaus auf dem Feld der Familie ab. Auf dem Nachbaracker arbeitete Castagnas Vetter, Latino Purita, der zehn Jahre älter war und erst kurz zuvor eine Gefängnisstrafe wegen Körperverletzung verbüßt hatte. Eines Tages, während einer Rast, redete Latino mit Castagna darüber, wie wichtig »die Ehre eines Mannes« sei, und sagte, dass »ein Mann mit Ehre Mitglied der Mafia« sein müsse. Begeistert unterzog sich Castagna einer fünfjährigen Lehrzeit, in der er auf Latinos Befehl hin Hühner stahl und Heuschober in Brand setzte. Er behauptete seine Männlichkeit, indem er einen anderen Jugendlichen erstach, der sich über seinen hinkenden Gang lustig gemacht hatte. Am Ostermontag 1941 durchlief er schließlich das umfassende Initiationsritual, das folgendermaßen begann:
»Seid ihr zufrieden, meine lieben Freunde?«, fragte der Boss.
»Absolut«, kam die einhellige Antwort von den
picciotti
und den hochrangigen Mafiosi um ihn herum.
»Seid ihr zufrieden?«
»Womit?«
»Mit den Regeln der Gesellschaft.«
»Absolut.«
»Gut. Im Namen der organisierten und gläubigen Gesellschaft taufe ich diesen Ort, wie unsere Ahnen Osso, Mastrosso und Carcagnosso es taten, mit Eisen und Ketten.«
In Presinaci die »Regeln der Gesellschaft« zu achten war eine stille Angelegenheit. Natürlich galt es Versammlungen zu besuchen und Verhaltensweisen zu lernen. Doch die Mafiosi aus Presinaci verbrachten auch viel Zeit in der Kneipe, wo sie einander Geschichten erzählten. Die Abenteuer der spanischen Ritter Osso, Mastrosso und Carcagnosso, jener
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