Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
jahrhundertelanger Regierungsfehler; sie sei eine Geisteshaltung, die vom Groll eines Volkes zeuge, welches selbst für Recht und Ordnung zu sorgen entschlossen sei, weil ihm vonseiten der Herrschenden keine Gerechtigkeit widerfahre. Nur im dynamischen kapitalistischen Umfeld der USA seien die Mafiosi als Ganoven zu betrachten:
»Der moderne Schurke in Amerika ist längst kein italienischer Schurke mehr, auch wenn er einen italienischen Namen trägt. Er ist in Amerika aufgewachsen und hat in Amerika gelernt, die Gesetze zu missachten. Er hat seinen Abschluss an der amerikanischen Universität des Verbrechens gemacht. Amerika hat seinen Charakter verwandelt.«
Der berüchtigte Gangster in Brooklyns Hafengegend, Albert Anastasia alias
The Mad Hatter
, sei dafür ein sehr gutes Beispiel. Die Tatsache, dass er 1902 als Umberto Anastasio in Kalabrien zur Welt kam, habe nichts zu bedeuten, weil »es in Kalabrien meines Wissens keine Mafia gibt«.
Zu Beginn des Jahres 1953 wurden Kefauvers Entdeckungen ins Italienische übersetzt. Sie trugen den Titel
Il gangsterismo in America
und waren das erste Buch über die Mafia, das seit dem Zweiten Weltkrieg in Italien erschienen war. Kommentatoren auf allen Seiten des politischen Spektrums übergingen mit verlegenem Schweigen Kefauvers Theorie von der Mafia als Weltverschwörung und konzentrierten sich stattdessen auf das, was der Senator über die Vereinigten Staaten zu sagen hatte. Für die meisten Italiener blieb der
gangsterismo
, wie der unschöne linguistische Import andeutete, eine ausschließlich amerikanische Angelegenheit.
Es hätte schon einer spektakulären Neuigkeit bedurft, um dort Erfolg zu haben, wo Kefauver gescheitert war, und Italiens Schweigen zu brechen. Eines geisteskranken Killers etwa. Oder einer Schönheitskönigin aus dem Gangstermilieu. Oder einer Invasion Kalabriens durch Außerirdische. 1955 geschah all dies auf einmal und brachte an den Tag, wie tief verwurzelt das Mafiaproblem in der jungen Republik bereits war.
2 DAS JAHR 1955
Das Ungeheuer von Presinaci
Am späten Vormittag des 17 . April 1955 verdrückte ein Bauer namens Serafino Castagna aus dem kalabrischen Dorf Presinaci zwei Spiegeleier, ohne sich wie sonst eine Scheibe Brot abzuschneiden. Dann küsste er das Kruzifix an der Wand und umarmte seine Frau und den neunjährigen Sohn. »Die Dinge dieser Welt kümmern mich nicht mehr«, sagte er. »Gott hat’s gegeben, Gott hat’s genommen.«
Wenige Augenblicke später, bewaffnet mit einer Pistole der Marke Beretta, einem Dienstgewehr mit aufgepflanztem Bajonett und einer Provianttasche voller Munition, trottete er in den sonntäglichen Sonnenschein, um sein erstes Opfer aufzuspüren.
Nicht weit entfernt, in einem Schuppen, lebte Castagnas weitläufiger Vetter Domenicantonio Castagna. Als Serafino dort ankam, traf er nur Domenicantonios 60 -jährige Mutter an, also feuerte er sechs Schüsse auf sie ab.
Dann entdeckte er Francesca Badolato, die einmal die Verlobte seines Bruders gewesen war. Er gab einen Schuss auf sie ab, verfehlte sie aber. Sie riss ihr Baby an sich und lief davon. Castagna war nicht sonderlich schnell zu Fuß, weil sein rechtes Bein einer angeborenen Behinderung wegen drei Zentimeter kürzer war als das linke. Trotzdem hinkte er Francesca hinterher und sah sie im Haus eines alten Barbiers Zuflucht nehmen. Castagna schlug gegen die Tür und zertrümmerte ein Fenster, während der Barbier und seine Frau ihn anflehten, das Mädchen zu verschonen. Schließlich trat er frustriert einen Schritt zurück und erschoss die Eheleute. Sie hießen Nicola ( 71 ) und Maria ( 60 ) Polito und waren erst seit zwei Wochen wieder vereint, nachdem Nicola drei Jahre in Argentinien verbracht hatte.
Castagna folgte dann den blechernen Tönen eines Radios in den Versammlungsraum der Kommunisten. Er warf einen Blick durch die Tür, konnte aber niemanden entdecken, der ihm Übles angetan hatte, und ging weiter. Als er sich den Parteiräumen der Christdemokraten näherte, sahen diese seine Pistole und bettelten um Gnade. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, sagte er zu ihnen. »Ich wollte nur ein paar Freunden guten Tag sagen.«
Castagna verließ das Dorf und ging dem Heuschober zu, wo er Munition versteckt hatte. Als ihm einfiel, dass ihn sein Weg am Grundstück des Vaters vorbeiführte, kamen bittere Kindheitserinnerungen in ihm auf. Sein Vater hatte die Familie wegen anderer Frauen im Stich gelassen und das wenige Geld vertan, das die
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