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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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Castagnas besaßen. Minuten später stand Serafino vor seinem Vater und sprach unter Tränen ein Todesurteil: »Siehst du, wozu du mich gebracht hast? Du hast uns nicht ordentlich erzogen. Sieh dir an, vor welchem Abgrund ich stehe, und das mit 34  Jahren … Du bist mein Vater, und als solchen liebe ich dich. Doch als Mann musst du sterben.«
    Ein Schuss streckte den Alten zu Boden. Serafino beendete seine Qualen mit dem Bajonett und küsste dem Vater zum Abschied die Hand.
    Auf dem Weg zu seinem nächsten Opfer ging er an einem alten Kuhhirten vorbei, der fragte: »Was führt denn dich hierher, Serafino?« – »Ich jage zweibeinige Wölfe«, versetzte dieser. Kurze Zeit später entdeckte Castagna Pasquale Petrolo, der auf dem Dreschboden vor seinem Bauernhaus saß und munter mit seiner Frau plauderte. Castagna verpasste ihm fünf Schüsse.
    Dann suchte er das Weite.
    Binnen Stunden hielten Reporter in ganz Italien ihre Leser über die Jagd nach ihm auf dem Laufenden. An jeder Kreuzung hatte man Straßensperren errichtet. Carabinieri durchstreiften die Hänge des Monte Poro, richteten ihre Maschinenpistolen auf jeden Ziegenhirten und musterten dessen wettergegerbtes Gesicht, um zu sehen, ob er der Beschreibung entsprach: »Mittelgroß, robust gebaut, blond, blaue Augen. Er ist herzkrank und leidet an einem Zwölffingerdarmgeschwür.« Die Presse betitelte Castagna als »das Ungeheuer von Presinaci«.
    Castagnas Heimatort bestand aus kümmerlichen Bauern, schwarzen Schweinen und fetten Fliegen, ein Bergkaff mit kaum hundert Häusern aus grobem Stein, in einem gottverlassenen Winkel in Italiens gottverlassenster Region gelegen. Da die meisten Italiener kaum etwas über Kalabrien wussten, kannten sie es als eine Gegend, in der die unablässige Armut bei den verrohten Bauern in regelmäßigen Abständen zu Ausbrüchen von Gewalt führte. Serafino Castagnas Amoklauf trug sämtliche Anzeichen einer solchen Bauerntragödie. Der Volksmund lieferte sogar ein Drehbuch für das Blutbad. »Castagna hat natürlich die Geschichte vom Räuber Musolino gelesen und wollte es ihm gleichtun«, behauptete der Polizeibeamte, der die Fahndung leitete. Das »Ungeheuer von Presinaci« wurde zum »Zweiten Musolino«, zum Thronfolger des »Königs des Aspromonte«. (Dieser verbrachte damals gerade seine letzten Lebensmonate in der Nervenheilanstalt von Reggio Calabria.) Wie Musolino vor ihm richtete auch Castagna eine Botschaft an die Behörden. Vor seinem Amoklauf hatte er die Namen der 20  Personen, die er ermorden wollte, auf ein Blatt Papier gekritzelt und die Liste bei seiner Frau hinterlegt, damit diese sie der Polizei übergab. Außerdem schrieb er an den örtlichen Kommandanten der Carabinieri von seinem Racheplan: »Ich werde töten bis zur letzten Patrone.«
    Als Castagnas Opfer zu Grabe getragen wurden, waren die Carabinieri in ihren dunklen Paradeuniformen die einzigen, die den Mut hatten, dem Leichenzug zu folgen. Ein kleiner Junge huschte aus einer Tür, um einen Strauß Blumen auf den letzten der fünf Särge zu werfen. Der flehende Aufschrei seiner Mutter folgte ihm auf die Straße, und er eilte sofort wieder zurück ins Haus.
    Während die Suche nach dem Ungeheuer weiterging, fing die Presse an, Fragen zu stellen. Die Ruhe, mit der Castagna seine Morde begangen hatte, legte die Vermutung nah, dass er doch nicht ganz von Sinnen war. Doch welche Logik hatte die Ermordung von fünf scheinbar unschuldigen Menschen, zwei davon Frauen, und allesamt alt? Wer waren die »Freunde« und die »zweibeinigen Wölfe«, auf die Castagna es seiner Aussage nach abgesehen hatte? Erste Spekulationen konzentrierten sich auf Castagnas Vorstrafenregister: Er hatte drei Jahre im Gefängnis verbracht, weil er versucht hatte, Domenicantonio Castagna zu töten, den weitläufigen Vetter, dessen Mutter an jenem Schreckenssonntag als Erste zu Tode gekommen war. Auch einige der übrigen Opfer schienen mit obigem Fall in Verbindung zu stehen. Wollte das Ungeheuer, genau wie Jahre zuvor der »König des Aspromonte«, an all jenen Rache nehmen, die gegen ihn ausgesagt hatten? Eine andere Theorie besagte, dass er die angekratzte Ehre seiner Familie hatte wiederherstellen wollen, indem er die Frau tötete, die seinen Bruder abgewiesen hatte.
    Die kommunistische Presse sah die Dinge anders. Sie betonte den sozialen Aspekt der Tragödie. Der Korrespondent der kommunistischen Tageszeitung
L’Unità
interviewte einen Parteigenossen aus der Gegend, der

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