Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
passierten.
Unweit des Gefängnisses befand sich die Porta Capuana, ein steinerner Torbogen, mit Friesen und Fresken verziert, den viele Erzeugnisse aus dem Hinterland passierten, um »besteuert« zu werden. Doch das kriminelle Epizentrum der Vicaria bildete ein Abschnitt der heutigen Via Martiri d’Otranto, die mitsamt den Straßen, die davon abgingen, als die Imbrecciata bekannt war. Die Imbrecciata war eine Zitadelle billiger Fleischeslüste; ihre Bewohner lebten fast ausnahmslos von Prostitution und erotischen Vorführungen. Der Bezirk war so verrufen, dass die Behörden mehrmals versuchten, ihn durch Mauern abzuriegeln.
Da die Vicaria so viele illegale Erwerbsmöglichkeiten bot, nimmt es nicht wunder, dass die ersten Oberbosse der ehrenwerten Gesellschaft aus diesem Viertel stammten.
Dass die Polizei in Neapel gleichsam den Teufel mit Beelzebub zu bekämpfen suchte, war in der Tat ein Skandal. Doch besonders erzürnt war der im Exil lebende Ökonom Antonio Scialoja über die Tatsache, dass die Bourbonenpolizei ihren Spitzeln, den
feroci
und Camorristi, freie Hand ließ, wenn diese liberal gesinnte Patrioten schikanierten und erpressten. In Wirklichkeit war den grobschlächtigen Ordnungshütern die politische Überzeugung ihrer Opfer herzlich egal. So kam es, dass auch Königstreue Geld ausspucken mussten, um »juristische Komplikationen« zu vermeiden, wie sich die
feroci
lächelnd auszudrücken pflegten. Auf diese Weise erhielt die Camorra in den unsicheren 1850 er Jahren, als die Bourbonenmonarchie höchst angreifbar und argwöhnisch war, ihre erste Chance, in der Politik mitzumischen.
Scialoja beendete sein Pamphlet mit einer exemplarischen Geschichte aus den eigenen Lebenserinnerungen als politischer Gefangener zu Beginn der 1850 er Jahre. Er entsann sich, dass die gewöhnlichen Kriminellen die inhaftierten Patrioten schlicht als »die feinen Herren« bezeichneten, weil ihre Anführer gebildete, wohlhabende Männer wie er selbst waren. Dabei war beileibe nicht ein jeder, der liberale politische Ansichten vertrat, ein Herr von Stand. Einige waren auch raubeinige Handwerker. Ein solcher Fall war Giuseppe D’Alessandro, bekannt als
Peppe l’aversano
– »Peppe aus Aversa« (Aversa war ein Bauerndorf nicht weit von Neapel). Peppe saß im Gefängnis, weil er sich an den revolutionären Unruhen im Jahre 1848 beteiligt hatte. Als er der Camorra begegnet war, hatte er kurzerhand beschlossen, sich lieber den Reihen der Erpresser zuzugesellen, als mit den herrschaftlichen Märtyrern zu leiden. So wurde er feierlich in die ehrenwerte Gesellschaft aufgenommen und stolzierte schon bald in weiten Hosen durch die Gänge.
Im Frühling 1851 , etwa zur selben Zeit, da Gladstone bei seinen britischen Lesern über die
gamorristi
vom Leder zog, fasste ein besonders eifriger Zweig der neapolitanischen Polizei den Plan, einige der inhaftierten Patrioten umzubringen. Doch nicht einmal die Polizei konnte einen solchen Plan in die Tat umsetzen ohne die Hilfe der Gefängnisverwaltung – der Camorra. Mit Peppe aus Aversa hatten sie den geeigneten Mann dafür gefunden; sie brauchten ihn noch nicht einmal zu bezahlen, zumal er noch immer wegen Hochverrats zum Tode verurteilt war und froh, seine Verabredung mit dem Henker nicht einhalten zu müssen.
Mit Hilfe einer Horde Camorristi, die auf sein Kommando warteten, versuchte Peppe zweimal, seinen Auftrag auszuführen. Doch beide Male boten die feinen Herren gemeinsam ihren Möchtegernmördern die Stirn.
Die politischen Gefangenen wandten sich in einem Brief an die Polizeibehörde und führten ihr den diplomatischen Skandal vor Augen, der folgen würde, falls der Pöbel sie in Fetzen reißen sollte. Die Gedächtnisstütze funktionierte. Peppe aus Aversa wurde in ein anderes Gefängnis verlegt, freigelassen und durfte schließlich den samtenen Rock gegen eine Polizeiuniform tauschen: Damit hatte er in wenigen Jahren die Verwandlung vom verräterischen Patrioten über den Camorrista zum Polizisten vollzogen.
Für Scialoja war Peppes Geschichte symptomatisch für alles Schlechte an der Herrschaft der Bourbonen und ihrer Gewohnheit, mit Gangstern zu paktieren. Die italienische
Patria
würde einen strahlenden Kontrast bilden zu solcher Kungelei. Das junge Italien, wann immer es käme, würde der umnachteten Metropole im Schatten des Vesuvs endlich eine gute Verwaltung schenken.
Doch da Neapel nun einmal Neapel war, erwies sich der Aufbau der
Patria
als weitaus merkwürdiger und
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