Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
den Tank eines Kippers zu streuen. Sobald eine Mafia – ob im Norden oder im Süden – diese raffinierteren Künste beherrscht, kann sie ihre Einschüchterungsmacht immens steigern und, was ebenso wichtig ist, die Bandbreite der Dienste vergrößern, die sie freundlich gesinnten Firmen anzubieten hat: Ausschreibungen trotz überteuerter Preise gewinnen, Inspektionen der Steuerbehörde abwenden, neue Freunde auftun …
Gangster und Blondinen
In der Ära des Faschismus kam Italien zum ersten Mal in den Genuss importierter amerikanischer Zigaretten wie Camel, Lucky Strike und Chesterfield. Man bezeichnete sie als »Blondinen«, weil sie einen helleren Tabak enthielten als die dunklen, luftgetrockneten Sorten, die in Italien angebaut wurden.
Die »Blondinen« wurden sofort beliebt. Der Staat hatte 1862 für Anbau, Import, Verarbeitung und Verkauf von Tabak ein Monopol errichtet und sich seit dieser Zeit stets bemüht, mit den Verbraucherwünschen und den sich ändernden Geschmäckern Schritt zu halten. Die Ankunft der Blondinen erschwerte es der Regierung ungemein, den Bedürfnissen der Allgemeinheit zu entsprechen. Kaum waren diese glamourösen neuen Glimmstengel zu Beginn der dreißiger Jahre eingeführt, verschwanden sie aber auch schon wieder aus den offiziellen Verkaufsstellen. Grund dafür waren die Sanktionen, die Italien nach dem Einmarsch in Äthiopien von 1935 auferlegt worden waren. Die Rationierung während des Zweiten Weltkriegs machte den Rauchern das Leben noch saurer. Und als 1943 die Alliierten einmarschierten und das faschistische Regime zu Fall brachten, war es um Italiens eigenen Tabakanbau geschehen. Britische und amerikanische Truppen kamen also inmitten eines Tabaknotstands, und sie kamen mit Zigaretten im Marschgepäck. Ein Großteil dieser Tabakwaren landete im aufkeimenden Schwarzmarkt. Als im Frühjahr 1948 die Rationierung endete und sich die heimische Tabakherstellung wieder erholte, war es zu spät: Italiens schnell wachsende Zahl von Rauchern ( 1957 waren es bereits 14 Millionen) flog regelrecht auf importierte Zigaretten. Und sie flog auch, was vielleicht genauso schädlich war, auf die illegalen Versorgungskanäle, die diese Zigaretten zu steuerfreien Preisen verfügbar machten. Dieser riesige kriminelle Markt prägt seitdem die Geschichte des organisierten Verbrechens in Italien. Er ist vergleichbar mit der Prohibitionszeit in den USA ( 1919 – 1933 ), als die Bundesregierung alkoholische Getränke verbot und damit ein Schmuggeleldorado schuf. In Neapel als der Hauptstadt des Schwarzmarktes nahm die lukrative Liebesaffäre zwischen Gangstern und Blondinen ihren Anfang.
1963 schuf das Kino in der ersten Episode von Vittorio de Sicas Dreiteiler
Ieri, oggi, domani
(
Gestern, heute und morgen
), der den Oscar für den Besten Ausländischen Film gewann, ein fesselndes Bild vom neapolitanischen Tabakschmuggel. Sophia Loren spielt ein Mädchen, das Schwarzmarktzigaretten aus einer Orangenkiste verkauft. Eine Verhaftung ist für sie Berufsrisiko. Da findet sie heraus, dass Schwangere nach dem Gesetz nicht im Gefängnis festgehalten werden dürfen, also bringt sie ihren Ehemann dazu, ein Kind nach dem anderen zu zeugen, bis die gemeinsame Einzimmerwohnung aus allen Nähten platzt. Irgendwann versagt das Fortpflanzungsorgan des Ärmsten den Dienst. (Der Ehemann wird gespielt von Marcello Mastroianni und seinem typischen gequälten Charme.)
Als Kinofilm ist die Loren-Episode von
Gestern, heute und morgen
letztlich ein sentimentales Klischee: noch ein Loblied auf die farbenfrohe Anarchie des neapolitanischen Straßenlebens. Doch hatte die Geschichte trotz alledem einen wahren Hintergrund. Die Figur der Loren war Concetta Muccardo nachempfunden, die Schmuggelzigaretten in Forcella verkaufte, Neapels »Kasba«. Muccardos 19 Schwangerschaften (sieben davon ausgetragen) bewahrten sie vor dem Gefängnis, bis die Polizei sie 1957 schließlich ohne ein Baby im Bauch oder auf dem Arm erwischte. Sie wurde zunächst für acht Monate ins Gefängnis gesteckt, ehe sie zu zwei weiteren Jahren verdonnert wurde, weil sie das Bußgeld nicht bezahlen konnte. Doch Muccardos Bekanntheit führte bald zu ihrer Freilassung. Die Leser zweier Zeitungen – die eine aus Turin, die andere aus Rom – beglichen großzügig ihre Schuld. Und im Januar 1958 wurde sie infolge einer Beschwerde seitens sozialistischer und kommunistischer Parlamentarierinnen vom Staatsoberhaupt, dem Präsidenten der Republik,
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