Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Familien, die sich zu Beginn der sechziger Jahre als lästig erwiesen hatten, wurden aufgelöst und ihre Kader auf benachbarte
cosche
verteilt. Immer wenn ein Repräsentant verhaftet oder getötet wurde, behielt die Kommission sich das Recht vor, einen vorübergehenden Ersatz zu finden, einen sogenannten »Regenten«.
Dem Wunsch in den 1960 er und 1970 er Jahren nach größerer krimineller Einigkeit wohnt jedoch ein fataler Widerspruch inne. Wenn sich die Macht auf wenige Personen konzentrierte, konnte sich ein Konflikt mit hoher Sprengkraft entwickeln, sollte die Einigkeit zerbrechen. Die Geschichte der Mafia war in einer schrecklichen Doppelbindungssituation gefangen. Kriminelle Organisationen hatten jetzt mehr Grund, Verhandlungen zu führen und ihre Ressourcen zusammenzulegen. Größere Einigkeit bedeutete aber auch, dass weitaus mehr Blut floss, sobald interne Streitigkeiten eskalierten – was nicht zu vermeiden war. Wo es früher lokale Kabbeleien gab, käme es jetzt zum umfassenden Konflikt. Die intensiven Friedensbemühungen der italienischen Unterwelt – die Appelle an die Einigkeit, die Zusammenkünfte, die Regeln, die Regierungsgremien, die machiavellistische Heiratspolitik – konnten letztendlich einen Krieg entfachen. Dieser wurde umso wahrscheinlicher, als Italien selbst in den schlimmsten Bürgerzwist seit dem Ende des Faschismus schlitterte. Als die sechziger Jahre den siebzigern wichen, beschleunigte die wachsende politische Gewalt in der italienischen Gesellschaft auch den Ausbruch blutiger Auseinandersetzungen innerhalb der Mafia.
Mafiosi
auf den Barrikaden
Ende der sechziger Jahre geriet Italien in eine Phase politischer Unruhen. Alles begann im Herbst 1967 mit der Geburt einer antiautoritären, gegenkulturellen Studentenbewegung, in deren Verlauf eine Reihe von Universitäten besetzt wurde. 1968 verschärfte sich der Protest mit einer Welle von Arbeiteraktionen, die im sogenannten »heißen Herbst« des Jahres 1969 kulminierten. Es kam zu illegalen Streiks, zu Massenversammlungen, Streikkommandos und Demonstrationen. Neue marxistische Revolutionsgruppen stellten sich an die Spitze des Kampfes, überzeugt, dass der Umsturz – von Vietnam über Südamerika bis Europa – bereits kurz bevorstand. Bis in die frühen siebziger Jahre herrschte Agitation an allen Fronten.
Die unheimlichste Antwort auf das neue militante Klima erfolgte am Nachmittag des 12 . Dezember 1969 : In einer Bank an der Piazza Fontana, nur einen Steinwurf vom Mailänder Dom entfernt, tötete ein terroristischer Bombenanschlag sechzehn Personen. Weitere achtundachtzig wurden verletzt. Grobe Versuche seitens der Polizei, die Schuld an dem Massaker Anarchisten in die Schuhe zu schieben, klärten sich auf, doch erst, nachdem einer der zu Unrecht verdächtigten Anarchisten, Giuseppe Pinelli, unerklärlicherweise aus einem Fenster im vierten Stock des Polizeipräsidiums zu Tode gestürzt war. (Dies war der »Zufällige Tod eines Anarchisten«, auf dem Dario Fos berühmtes Bühnenstück basiert.) Italiens etablierte Gesellschaft legte einen auffälligen Widerwillen an den Tag, nach dem wahren Bombenleger zu suchen. Was blieb, war die weitverbreitete und zweifellos berechtigte Mutmaßung, dass Neofaschisten, im Bunde mit den Geheimdiensten, dafür verantwortlich waren. Es war die
strategia della tensione
, die »Strategie der Spannung«: Ein Klima der Angst sollte Italiens Gesellschaft von der Demokratie abbringen und einer autoritären Staatsform zuführen.
Ein Jahr später unternahm Junio Valerio Borghese, ein hartnäckiger Faschist mit Freunden beim Militär und im Geheimdienst, einen Putschversuch in Rom. Der Staatsstreich war am Ende ein Flop, doch die Italiener erfuhren erst Monate später davon: Man munkelte von einer Vertuschung durch den Geheimdienst.
Die Strategie der Spannung brachte in den folgenden zehn Jahren weitere Gräuel hervor. Im Mai 1974 wurde in Brescia auf der Piazza della Loggia während einer Demonstration gegen Rechtsterrorismus eine Bombe gezündet, die acht Menschenleben forderte. Fünfundachtzig Personen wurden von einer gewaltigen Bombe aus dem Leben gerissen, die im August 1980 im Warteraum der zweiten Klasse am Hauptbahnhof Bologna detonierte. Es folgte eine vertraute Serie von Vertuschungsmanövern und kunstvoll gelegten falschen Spuren. Viele Menschen in Italien waren der Überzeugung, dass es sich um staatlich verordnete Massaker handelte, und die Glaubwürdigkeit von Italiens Institutionen
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