Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

wogegen Bosse auf dem Land, wie der alte Patriarch Don ’Ntoni Macrì, nichts mit Borghese zu schaffen haben wollten. Vernünftigerweise bevorzugten die meisten ’Ndranghetisti statt des hochriskanten und unsicheren Projekts, durch einen Staatsstreich autoritäre Politiker an die Macht zu bringen, das eintönige, aber ungleich lukrativere Geschäft, mit korrupten Politikern handelseinig zu werden, die bereits Macht besaßen. Wo außerdem schon Kontakte bestanden zwischen Gangstern und rechten Aufständlern, basierten sie üblicherweise auf einem der wenigen gemeinsamen Nenner der beiden: Waffen. Ob und wie weit die Kontakte über diese grundlegende Übereinstimmung der Interessen hinausgingen, ist unklar. Vieles an dieser Geschichte liegt noch im Dunkeln. In den darauffolgenden Jahren bewegten einige ’Ndranghetisti sich zweifellos in denselben Kreisen wie faschistische Umstürzler und deren Freunde vom Geheimdienst. In der Hauptsache folgte die Geschichte der ’Ndrangheta nach den Ereignissen von 1970 in Reggio jedoch einem vertrauteren Pfad.
    Die Revolte von Reggio lehrt, wie instabil ein politisches System sein kann, das auf Vetternwirtschaft, Gruppeninteressen und Mafiaeinflüssen basiert. Der Volkszorn kann sich jederzeit in Aufständen entladen, weil immer irgendeine Seite Grund zur Unzufriedenheit hat.
    Die Antwort der Staatsregierung auf die Reggio-Revolte war ein massives Investitionsprogramm, das »Colombo-Paket« – benannt nach dem damaligen Ministerpräsidenten –, das den Vorrat an Gefälligkeiten vergrößern sollte. Als Herzstück des Colombo-Pakets war der Bau eines gewaltigen neuen Stahlwerks geplant, an der tyrrhenischen Küste bei Gioia Tauro. Mit der Wirtschaftskrise der Siebziger wurde das Colombo-Paket beschnitten. Das Stahlwerk wurde nie wirklich fertiggestellt – Grund dafür waren sinkende Stahlpreise. Auch spätere Pläne zur Errichtung eines Kohlekraftwerks ließen sich nicht verwirklichen. Stattdessen wurde der Standort in einen riesigen Containerhafen umgewandelt – der größte am Mittelmeer –, der 1994 eröffnet wurde. Das Anwesen der Familie Piromalli steht auf einer Klippe, die sowohl den Containerhafen als auch den angrenzenden Friedhof überblickt: Die Symbolik dürfte sich wohl jedem erschließen.
    ’Ndranghetisti wie die Piromallis hätten sich keinen besseren Ausgang der Krise von 1970 erträumen können: eine scheinbar ewige Baustelle inmitten der Gegend Kalabriens mit der größten Mafiadichte. Kaum wurde das Colombo-Paket in Aussicht gestellt, legten sich die Bosse von Gioia Tauro wie Kinder im Spielzeugladen schleunigst Kräne, Bagger, Betonmischmaschinen und Kipplaster zu. Das frenetische Gegrabsche nach den Verträgen und Nebenverträgen, die das Colombo-Paket abwarf, war am Ende eine der Hauptursachen des sogenannten ersten ’Ndrangheta-Kriegs in Kalabrien.
    Der erste ’Ndrangheta-Krieg hatte jedoch noch weitere Ursachen. Eine davon war das Anwachsen des dritten großen Sektors im kriminellen Wirtschaftswunder: Nach dem Bauboom und dem Zigarettenschmuggel folgten die Entführungen.
    Die Entführungsindustrie
    In Italien wurden in den siebziger und achtziger Jahren landauf, landab etwa 650  Personen entführt. Zu den Opfern zählen auch bekannte Namen wie der Liedermacher Fabrizio De André und nicht weniger als drei Mitglieder der Schmuckdynastie Bulgari. Von den zig Milliarden Lire, die an Lösegeld gezahlt wurden, tauchten trotz diverser Vorsichtsmaßnahmen wie markierten oder präparierten Banknoten lediglich acht Milliarden (nach heutigem Maßstab ungefähr 28  Millionen Euro) wieder auf. Kein Wunder, dass der Begriff »Entführungsindustrie« zum journalistischen Klischee wurde.
    Ab den frühen 1970 er Jahren verhalf die Entführungsindustrie dem organisierten Verbrechen zu noch größerem Wohlstand. Zugleich wurden die Spannungen innerhalb der italienischen Unterwelt weitaus unberechenbarer. Die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung zwischen dem neuerdings gewinnträchtigen Entführungsgewerbe und den Risiken eines Gangsterkriegs waren in Kalabrien und Sizilien nicht dieselben. ’Ndrangheta und Cosa Nostra hatten sehr unterschiedliche Einstellungen zur Praxis des erpresserischen Menschenraubs. Wie Antonio Calderone, ein sizilianischer Mafioso, 1992 erklärte:
    »Die sizilianische Mafia lebt nicht von der Prostitution, weil Prostitution eine schmutzige Sache ist. Kann man sich einen Ehrenmann vorstellen, der als Zuhälter lebt und Frauen ausbeutet?