Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
In Amerika vielleicht, das mag sein … Doch die Mafia auf Sizilien tut so etwas nicht, Punkt.
Entführungen sind etwas anderes. Gegen Entführungen hat die Cosa Nostra keine Regeln, sie sind akzeptiert. Sie sind auch nichts Schmutziges, so wie die Prostitution.«
Sizilianische Mafiosi haben bereits eineinhalb Jahrhunderte Erfahrung, was Entführungen betrifft; seit Bestehen ihrer Ehrenwerten Gesellschaft haben sie Männer, Frauen und Kinder gekidnappt. Deshalb wissen sie, dass eine Entführung mehrere Bedeutungen und Motive haben kann. Ein großes Lösegeld ist natürlich willkommen, doch manchmal nicht einmal die Hauptsache. Wichtiger mag der Wunsch sein, Freunde zu gewinnen.
Wer mit Hilfe einer Entführung Freunde gewinnen will, muss sich an ein bestimmtes Rollenspiel halten. Einer schlüpft in die Rolle des Bösen, der herumbrüllt und den Leuten damit droht, ihre Kinder verschwinden zu lassen, falls sie kein Vermögen herausrücken. Nun tritt der Vermittler in Aktion. Er spricht mit den Entführern, bleibt ruhig, handelt das Lösegeld herunter, bringt die Geisel sicher nach Hause und sorgt natürlich dafür, dass ihr auch in Zukunft nichts Böses widerfährt.
Beide Rollen werden von Mafiosi gespielt. Entführung und Erpressung (die oft nach denselben Regeln funktionieren) ermöglichen es der Mafia, gleichzeitig zum größten Schrecken zu werden und zum besten Freund, den man sich unter diesen Umständen wünschen kann. Wie Machiavelli schrieb: »Menschen, die Gutes von jemandem erfahren, von dem sie Übles erwartet hatten, fühlen sich ihrem Wohltäter zu großem Dank verpflichtet.« Mit solch einfachen Mitteln unterwandert die Ehrenwerte Gesellschaft Siziliens die Regierenden der Insel seit Mitte des 19 . Jahrhunderts. Der Begriff »Stockholmsyndrom« – wenn Entführungsopfer eine starke Bindung zu ihren Entführern aufbauen – wurde erst 1973 erfunden. Dabei hätte man ihn schon vor über hundert Jahren auf einen Großteil der sizilianischen Elite anwenden können.
Entführungen sind ziemlich aufwendig. Oft ist ein großes Komplizenteam vonnöten. Die Zielperson muss gefangen genommen, versteckt und ernährt werden, womöglich für längere Zeit. Sie ist
per definitionem
reich und höchstwahrscheinlich auch mächtig – die Sorte Mensch, deren Verschwinden Politiker in Unruhe versetzt, zu öffentlichkeitswirksamer Rhetorik gegen kriminelle Elemente und zum Einsatz zahlloser Polizisten animiert. Ein Mafiaboss, der eine größere Entführung abzieht und andere Bosse nicht für die Unannehmlichkeiten entschädigt, macht sich vermutlich recht unbeliebt. Jeder gewöhnliche Kriminelle, der auch nur einen Funken Verstand besitzt, weiß, dass er sein eigenes Todesurteil unterschreibt, wenn er jemanden ohne die Erlaubnis der Mafia entführt. In den siebziger Jahren kam einem Mafioso im Gefängnis zu Ohren, dass ein Mithäftling ohne Mafiaverbindungen mit dem Gedanken spielte, jemanden zu entführen; seine Antwort war schlicht ein hingemurmeltes »chistu ’avi a moriri«: »Dieser Typ muss sterben.« Eine Woche nach seiner Entlassung wurde der Möchtegernkidnapper erschossen.
Aus all diesen Gründen haben Entführungen auf Sizilien ihre Zeit: kurze Phasen, in denen sie alltäglich, und längere Phasen, in denen sie selten sind. So entführten Mafiosi – oder Banditen, die wohl oder übel als Komplizen fungierten – in den eineinhalb Jahrzehnten nach der italienischen Einigung von 1860 viele sizilianische Würdenträger. 1876 schließlich trug die Entführung eines englischen Schwefelhändlers dazu bei, dass gegen das organisierte Verbrechen auf der Insel andere Saiten aufgezogen wurden. Viele Banditen, von ihren Mafiabeschützern verraten, wurden erschossen. Fortan waren Entführungen nicht mehr erwünscht: ein sicherer Indikator, dass die Mafia mit ihren Freunden unter den Herrschenden zu einer Einigung gekommen war.
Die Häufigkeit von Entführungen kann uns auch verraten, ob in der sizilianischen Unterwelt gerade eine denkwürdige Umwälzung vonstatten geht. Dies trifft im Besonderen auf die frühen siebziger Jahre zu. Die meisten der Bosse, die nach den Gerichtsverfahren der späten sechziger Jahre – infolge der Ereignisse im ersten Mafiakrieg – aus dem Gefängnis freikamen, waren sehr schlecht bei Kasse. Wie Antonio Calderone, ein Ehrenmann, der sie alle kannte, sich später erinnerte:
»Wohlgemerkt, wenn ich sage, dass damals kein Geld da war, dass die Mafia pleite war, dann ist das keine
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