Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
unschuldiges Opfer der Camorra-Gewalt. Die Carabinieri, die seinen Tod untersuchten, verfolgten die Spur der Wagen zurück an einen Ort, den sie gut kannten, weil sie ihn bereits mehrfach durchsucht hatten: den von Bäumen geschützten Bauernhof, von dem aus der verbrecherische Nuvoletta-Clan agierte. Sie fanden die Auswirkungen einer gewaltigen Schießerei. Die Hausfassade war von Einschusslöchern übersät, überall lagen Patronenhülsen. Die Beamten suchten weiter, und auf einer Straße, die vom Haus wegführte, entdeckten sie die Leiche eines Mannes, den ein Kopfschuss aus nächster Nähe getötet hatte: Es handelte sich um einen der jüngeren Nuvoletta-Brüder, Ciro. Seltsamerweise hatte jemand einen Frontalangriff auf die mächtigsten Camorristi von allen angezettelt.
Die ersten Journalisten, die über den Zwischenfall berichteten, wussten um die führende Rolle der Nuvolettas im Widerstand gegen die
Nuova Camorra Organizzata
und spekulierten, dass die Männer des »Professors« hinter der Attacke steckten. Hatte sich die NCO etwa wieder erholt? Die wahre Bedeutung der Schießerei in Marano erschloss sich erst später. Die Landschaft der Camorra-Macht war im Begriff, sich zu verschieben. Während die NCO der Niederlage entgegenging, zeigte die siegreiche
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Zersplitterungstendenzen. Der Nuvoletta-Clan, die älteste Camorradynastie und die Säule, um die herum die Cosa Nostra ihr kampanisches Protektorat errichtet hatte, stand vor dem Untergang. Damit endete der sizilianische Einfluss in Kampanien. Die Camorra wurde mündig, und ein Großteil der Region veränderte ihr Gesicht.
Der Mann, der den spektakulären, demonstrativen Angriff auf die Nuvoletta-Farm inszeniert hatte, war Antonio Bardellino. Bardellino war in San Cipriano d’Aversa geboren, einem von drei benachbarten Marktflecken (die anderen sind Casapesenna und Casal di Principe) nördlich des Nuvoletta-Stützpunktes. Generationen illegaler Bauten hatten diese Orte in ein unentwirrbares Geflecht nicht verzeichneter Straßen verwandelt. Die Gegend, bekannt für ihre Obstbäume und ihren Büffelkäse, war seit über 100 Jahren berüchtigt: Mussolinis scharfes Vorgehen gegen die ländliche Camorra in den zwanziger Jahren hatte sich auf diese Region konzentriert.
Obwohl er aus einem traditionellen Camorragebiet kam, war Bardellino im Vergleich zu den Nuvolettas so etwas wie ein Emporkömmling: Er hatte seine kriminelle Laufbahn mit Überfällen auf Lkws begonnen. Offiziell gehörte er der Nuvoletta-Familie an und hatte im Bauernhof von Marano seine Mitgliedschaft in der Cosa Nostra mit Blut aus seinem Finger besiegelt. Jedoch kam es infolge des Krieges zwischen der NCO und der NF bald zu Spannungen zwischen Bardellino und seinen Bossen. Wie bereits erwähnt, engagierten sich Lorenzo Nuvoletta und Michele Zaza nur widerwillig im Kampf gegen den »Professor«. Bardellino dagegen plädierte für ein weitaus aggressiveres Vorgehen. Er kommandierte ein engagiertes Team junger Killer, die zu den effizientesten Kampftruppen der
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gehörten – und der zahlenmäßig überlegenen NCO durchaus gewachsen waren. Einer von Bardellinos damaligen Verbündeten erinnerte sich: »Wir fühlten uns wie die Israelis, die es mit den Arabern aufnahmen.«
Als sich der Krieg fortsetzte, kamen weitere Differenzen zwischen den Nuvolettas und Bardellino ans Licht. Die Nuvoletta-Brüder pflegten enge Kontakte zu Totò Riina und den Corleonesern. Bardellino dagegen war der Geschäftspartner einiger Feinde Riinas im Transatlantischen Syndikat und verbrachte zunehmend Zeit mit ihnen, außerhalb von Kampanien, auf der Drogenroute aus Südamerika. So entstanden dieselben Kampflinien, die 1981 bis 1983 im zweiten Mafiakrieg quer durch Sizilien führten, jetzt in den kampanischen Gebieten der Cosa Nostra.
1984 wussten die Corleoneser bereits, dass Bardellino mit überlebenden Ehrenmännern der Verliererseite in Sizilien weiterhin in Kontakt gestanden und somit Riinas neu errichtete Vorherrschaft über die Cosa Nostra verhöhnt hatte. Bardellino und seine Verbündeten waren dagegen sicher, dass die Nuvolettas im Krieg gegen die
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eine doppelzüngige Abwartestrategie anwendeten. Auf Anweisung aus Corleone hatten sich die Nuvolettas aus dem Konflikt herausgehalten, während Bardellino und seine Killer die Hauptakteure der Kämpfe waren. Offensichtlich hatten die Nuvolettas vor abzuwarten, bis der »Professor« und Bardellino sich
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