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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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besetzten jede einflussreiche Stelle mit ihren Männern: von den Ministerien über staatliche Fernsehsender und verstaatlichte Banken bis hin zu den örtlichen Gesundheitsbehörden. Diese sogenannte »Parteiokratie« wurde gänzlich eigennützig, indem sie Politik und Staat von der üblichen Pflicht abschnitt, den Willen des Volkes zu spiegeln und kollektive Dienste zu verwalten. Eine neue Spezies tauchte auf, der »Businesspolitiker«: ein Parteifunktionär oder Verwaltungsbeamter, der bei öffentlichen Aufträgen systematisch Schmiergelder einsteckte. Diese Geschäftspolitiker pflegten die Schmiergelder entweder zu veruntreuen oder, weitaus häufiger, sie in Quellen privater Macht zu investieren: eine Partei oder Parteifraktion, eine Clique aus Freunden oder Freimaurerbrüdern. Ein Teil des Geldes wurde für Luxusgüter ausgegeben, gleichsam als Insignien der politischen Macht und der Skrupellosigkeit: ein großes Auto, ein schicker Anzug oder die verschwenderische Hochzeit der Tochter. Sobald gelegentliche Ermittlungen das Thema Bestechlichkeit in die Schlagzeilen brachten, taten sich die regierenden Klassen zusammen und bezichtigten die Richter der Parteilichkeit.
    Im Süden, aber nicht nur dort, war dieses neuerdings heruntergekommene politische System leichte Beute für die Drohungen und Winkelzüge des organisierten Verbrechens. In der ethik-befreiten Welt der Parteiokratie wurden kriminelle Organisationen nur eine weitere Lobby, die es zu bestechen galt. Für jede erdenkliche politische Clique, genau wie für jede beliebige Firma, die mit dem öffentlichen Sektor Geschäfte machen wollte, wurde es zum Wettbewerbsvorteil im Kampf um öffentliche Ressourcen, wenn man Camorristi, ’Ndranghetisti oder Mafiosi zu seinen Freunden zählte. Selbst als sie gewalttätiger wurden als jemals zuvor, gierig wie nie auf die Gewinne aus dem Drogenschmuggel, wurde die Verflechtung zwischen Mafia, Camorra, ’Ndrangheta und dem Staat – einem Staat, der Gesellschaft und Wirtschaft fester im Griff hatte denn je – immer unentwirrbarer.
    Das organisierte Verbrechen hatte sich unentbehrlich gemacht. Angesichts einer wiedererstarkten Camorra in den 1980 er Jahren formulierte ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss 1993 den Stand der Dinge folgendermaßen:
    »In Gebieten, die von der Camorra dominiert werden, tendieren Gesellschaft, Unternehmen und Behörden dazu, in Abhängigkeit zu geraten. Die Camorra wird zum großen Vermittler, zur essentiellen Schaltstelle, die die Gesellschaft mit dem Staat, den Markt mit dem Staat und die Gesellschaft mit dem Markt verbindet. Dienstleistungen, Geldmittel, Wählerstimmen und der Ein- und Verkauf von Gütern – alles ist der Vermittlung durch die Camorra unterworfen. Die Aktivitäten der Camorra schaffen eine allgemeine ›Herrschaft der Gesetzlosigkeit‹.«
    Die Grenze zwischen illegalen und legalen Geschäften wurde fließend. Im Bausektor war die Grenze kaum noch zu erkennen. Camorristi waren Neulinge im Bauwesen, doch zu Beginn der 1980 er Jahre besaß jeder größere Clan bereits eine eigene Zementfabrik. Schmiergeldzahlungen wurden zur Routine, ebenso die Vergabe lukrativer Aufträge an Subunternehmer.
    Neapel und die Stadt Campania wurden nach dem abscheulichen Bild des organisierten Verbrechens umgestaltet. Ein gesamtes Stadtviertel für 60 000  Einwohner – Pianura unweit der Nuvoletta-Kapitale Marano – wurde ausschließlich mit Camorrageld und ohne eine einzige Baugenehmigung aus dem Boden gestampft. Der gesamte Stadtrand von Neapel wurde laut Aussage des parlamentarischen Untersuchungsausschusses
    »in einen Ballungsraum verwandelt, der sich nur mit den Elendsvierteln der Metropolen vergleichen lässt, die schnell und chaotisch in Südamerika oder Südostasien gewuchert sind: Er ist unbewohnbar und unbefahrbar. Solch ein Maß an Chaos ist der Nährboden, in dem die Camorra wächst und gedeiht.«
    Illegales Bauen hat auf längere Sicht eine zersetzende Wirkung. Personen, deren Wohnhäuser ohne Baugenehmigung entstanden sind, oder Firmen, die in illegalen Immobilien ihren Sitz haben, stellen ein gewaltiges Wählerpotential für die skrupellosesten Strippenzieher dar. Sie sind abhängig von Gefälligkeiten von oben, um Anschluss an das Stromnetz, das Straßennetz oder die Wasserversorgung zu erhalten. Sie müssen vor allen Politikern und Verwaltungsbeamten geschützt werden, die entschlossen sind, dem Gesetz Geltung zu verschaffen und das Abbruchsverfahren einzuleiten.

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