Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Turm von Pisa zu sprengen). Innere Spannungen, von Riina in Schach gehalten, kamen erneut an die Oberfläche. Der Zentralisierungsprozess, den die Cosa Nostra seit dem Putsch der
corleonesi
durchlaufen hatte, wurde rückgängig gemacht. Bezirksbosse erhielten mehr Freiheit – und dadurch mehr Spielraum für Eigenmächtigkeiten. Die Befürworter der Massaker beäugten Provenzano mit Argwohn, sosehr er sich auch bemühte, über dem Streit zu stehen. 1995 führte er einen Stellvertreterkrieg gegen Riinas Schwager Leoluca Bagarella um die Kontrolle über Villabate in der Peripherie Palermos. Viele Mitglieder der Cosa Nostra, ob zu Recht oder zu Unrecht, waren auch der Überzeugung, dass Provenzano 1993 Totò Riina an die Behörden verraten hatte.
Provenzano hatte sich seit 1963 der Festnahme entzogen und damit die meiste Erfahrung als Flüchtiger in der sizilianischen Mafiageschichte. Lange Zeit hatte man ihn sogar für tot gehalten. Sobald er das Sagen hatte, gab er Riinas Strategie der Massaker auf und bemühte sich, den Schaden zu reparieren, den die Cosa Nostra infolge der Reaktion des Staates auf die Anschläge von 1992 und 1993 erlitten hatte. Seine Strategie des Untertauchens – »auf wattierten Sohlen gehen«, wie er es nannte – sollte die Cosa Nostra aus den Schlagzeilen halten. Erwartungsgemäß sank die Anzahl der Morde dramatisch. Der »Traktor« setzte den Grausamkeiten gegen Kronzeugen und deren Familien ein Ende. Stattdessen unterstützte die Cosa Nostra vermehrt inhaftierte Mafiosi und ihre Familien in der Hoffnung,
pentiti
dazu zu bringen, ihre Aussagen zurückzuziehen. Die Flut der Überläufer, deren Anzahl 1996 mit 424 einen Höhepunkt erreichte, versickerte zum Getröpfel. Eine Folge davon war, dass das Unterstützungsnetz des »Traktors« sich als weitaus stabiler erwies, als dies bei Bossen wie Bagarella und Brusca der Fall gewesen war.
Provenzano pflegte wieder vermehrt die traditionellen, verdeckten Freundschaften der sizilianischen Mafia mit korrupten Elementen in Staat und Wirtschaft. Unabdingbar für die Strategie des Untertauchens war die Schutzgelderpressung. Sie ist die am wenigsten sichtbare und doch wichtigste kriminelle Aktivität der sizilianischen Mafia. Jeder Unternehmer oder Kriminelle, der sich der Forderung des örtlichen Bosses unterwirft und ihm einen Prozentsatz seiner Einkünfte abtritt, versorgt die Mafia nicht nur mit ihrem Haupteinkommen: Er akzeptiert damit auch die Souveränität der Mafia, ihr Recht, sich einzumischen. Die Schutzgelderpressung ist der Weg, auf dem ein Boss Informationen über sein Revier sammelt und den Fuß in die Tür legaler Unternehmen bekommt. Was für einen demokratischen Staat das Steuersystem ist, ist für die Mafia – den Schattenstaat Süditaliens – die Schutzgelderpressung.
Die Strategie des Untertauchens war mit Sicherheit die beste Methode, um Zeit zu gewinnen. Doch Provenzano stand vermutlich vor unüberwindlichen Herausforderungen. Zum einen hob ein altes Problem der sizilianischen Mafia erneut das hässliche Haupt: die Neigung der Politiker, ihre Versprechen zu brechen. Das lächerlich schlechte Italienisch, in dem Provenzano seine Botschaften abtippte, lässt sich unmöglich ins Englische (oder Deutsche) übertragen. Doch der folgende Auszug aus einer Botschaft des Jahres 1997 lässt zumindest erahnen, welche Sorgen den »Traktor« im Zusammenhang mit den Freunden in der Politik plagten:
»Jetzt erzählt ihr mir, ihr hättet einen verlässlichen politischen Kontakt, mit dessen Hilfe ihr imstande wärt, Großartiges zu leisten, aber bevor ihr euch darauf einlasst, wollt ihr wissen, was ich davon halte? Wenn ich ihn nicht kenne, kann ich nichts sagen. Man braucht Namen, muss wissen, wie sie aufgestellt sind. Heutzutage kann man keinem trauen. Sind sie Betrüger? Oder Bullen? Oder vielleicht sogar Spitzel? Könnten sie Zeitverschwender sein? Oder massive Intriganten? Wenn man den Weg nicht kennt, den man einschlagen will, dann kann man nicht losfahren – ich kann euch also gar nichts sagen.«
Wieder einmal, wie so oft, vermochte Provenzano keine klare Entscheidung zu treffen. Sein Aktionsspielraum war, offen gesagt, äußerst begrenzt. Zum einen nährte sich seine Autorität noch immer weitgehend aus Riinas Ansehen. Der »Traktor« saß nie an der Spitze der Kommission, die seit Riinas Festnahme nicht mehr einberufen worden war. Wie sizilianische Ermittlungsrichter es ausdrücken:
»Provenzano wurde von den anderen
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