Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
zwischen den Behörden und dem Mafiaschattenstaat. Das Ausstiegsangebot passte in anderen Worten perfekt zu Provenzanos Strategie des Untertauchens. Beunruhigenderweise wurde der Vorschlag von einem Artikel in Silvio Berlusconis Zeitung
Il Giornale
wärmstens begrüßt. Noch beunruhigender war die Tatsache, dass 2001 der Richter, der sich dem Ausstiegsabkommen am energischsten entgegenstellte, von Berlusconis Justizminister überraschend entlassen wurde.
Am Ende wurde Aglieris Ausstiegsszenario abgelehnt, dank der prägnanten Berichterstattung investigativer Journalisten und der politischen Lobbyarbeit von Antimafia-Richtern und Staatsanwälten. Dennoch tauchte es über die Jahre immer wieder auf, was das Talent der Cosa Nostra zeigte, Teilen des italienischen Staates ihr hinterhältiges Spiel aufzuzwingen.
Unterdessen wurde die Verfolgung flüchtiger Mafiosi fortgesetzt. Im April 2002 fasste die Polizei Antonino Giuffrè, auch als
Manuzza
, »Kleine Hand«, bekannt, weil seine rechte Hand bei einem Jagdunfall verstümmelt worden war. Im Gegensatz zum frommen Pietro Aglieri wurde Manuzza schnell zum »Reuigen« und lieferte den Ermittlern wichtige neue Einblicke in die Art und Weise, wie Bernardo der »Traktor« Provenzano die Cosa Nostra umstrukturierte und ihre Verbindungen zur Wirtschaft neu aufbaute. Als man ihn festnahm, hatte »Kleine Hand« eine Einkaufstasche voller Briefe an Provenzano bei sich, die ihm Mafiosi und Unternehmer aus seinem Netzwerk geschrieben hatten.
Doch es sollten noch vier lange Jahre vergehen, ehe das logistische System des »Traktors« offengelegt und Provenzano selbst aufgespürt werden konnte. Im April 2006 fielen aus aller Welt ungläubige Journalisten in Sizilien ein, um die Hütte in der Nähe von Corleone zu filmen, in welcher der größte Stratege der Cosa Nostra, ein Mann, der 43 Jahre vor dem Gesetz auf der Flucht gewesen war, endlich festgenommen werden konnte. Hatte ein so mächtiger Mann wie Provenzano wirklich in einer so bescheidenen Umgebung gelebt und sich von Ricottakäse und Zichorien ernährt wie irgendein Bauer aus vergangener Zeit? Doch er war kein Bauer: Er war ein professioneller Verbrecher. Und sein Heimatort Corleone war seine letzte Zuflucht, nachdem er jede andere Operationsbasis an die Behörden verloren hatte.
Die Mafiajäger ließen auch nach der Festnahme von Riinas Nachfolger nicht locker. Bereits zwei Monate später verhafteten sie weitere 45 Mafiosi
.
Die Operation förderte die politischen Risse zutage, welche die Cosa Nostra an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht hatten, während der Staat gegen ihre Anführer vorging. Diese Risse hatten ihre Wurzeln im heftigsten Konflikt in der Geschichte der Cosa Nostra: Riinas Vernichtungskrieg von 1981 bis 1983 gegen die führenden Drogenbarone der Mafia. Zum Zeitpunkt dieses Krieges waren Mafiosi aus einigen der unterlegenen Familien, vornehmlich die Mitglieder des Inzerillo-Clans (über Blutsbande mit der Gambino-Familie der amerikanischen Cosa Nostra verbunden), in die Vereinigten Staaten ins Exil geflüchtet. Jetzt war eine Bewegung im Gange, die den Exilanten die Rückkehr erlaubte, um einerseits die sich lichtenden Reihen der Organisation aufzufüllen und andererseits die transatlantische Drogenpipeline neu zu errichten.
Der Vorschlag, die Exilanten nach Hause zu holen, hatte seit Riinas Festnahme in der Luft gelegen und besaß natürlich Zündpotential. Nicht weniger als 21 Mitglieder des riesigen Inzerillo-Clans waren von den Corleonesern getötet worden. Andere hatten sich ihr Leben erkaufen müssen, indem sie ihre engsten Verwandten an Riina verrieten. Eine gesamte
borgata
, Ciaculli, war von den Siegern »gesäubert« worden. Nur ein von mächtigen amerikanischen Bossen ausgehandeltes Abkommen hatte die Corleoneser davon abgehalten, die Überlebenden weiter zu verfolgen, nachdem sie in die Vereinigten Staaten geflüchtet waren. Da die Corleoneser mittlerweile geschwächt waren, musste die Rückkehr der Verbannten unweigerlich die Begleichung alter Rechnungen mit sich bringen. Der »Traktor« Provenzano verfügte nicht über genügend Einfluss, um eine Lösung durchzusetzen. Somit gärte das Problem in der Cosa Nostra, die in zwei bewaffnete Lager zerfiel: Die einen waren für die Rückkehr der Verbannten, die anderen dagegen. Kaum war der »Traktor« aufgespürt worden, stand einem Bürgerkrieg nichts mehr im Weg.
Der leidenschaftlichste Befürworter einer Rückkehr der Verbannten
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