Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Die
casalesi
errichteten ein lokales Monopol auf die Verteilung einiger größerer Nahrungsmittelmarken. Überdies war das Entsorgungsunternehmen Eco 4 eine ihrer Tarnfirmen. Die
casalesi
waren es auch, die mit ihrem Giftmüllhandel das »italienische Tschernobyl« auf dem eigenen Territorium zu verantworten hatten. Einem reuigen Casaleser zufolge erhielt eines der Clanmitglieder, das seinem Boss gegenüber Bedenken äußerte, eine abwiegelnde Antwort: »Wen kümmert’s, wenn wir das Grundwasser verschmutzen? Wir trinken doch ohnehin Mineralwasser.«
Im September 2006 hatte
Gomorrah
bereits Preise gewonnen und Zehntausende Leser gefunden, besonders unter den jungen Leuten. Zu diesem Zeitpunkt kehrte Saviano in seine Heimatstadt zurück, um an einer Demonstration für den Rechtsstaat teilzunehmen. Von einer erhöhten Tribüne auf einer Piazza aus, vor einem himmelblauen Hintergrund, rief er die Bosse beim Namen: »Iovine, Schiavone, Zagaria – ihr seid keinen Schuss Pulver wert!« Dann wandte er sich an die Menge: »Ihre Macht basiert auf eurer Angst! Sie müssen weg von hier!« Niemand sollte die Kühnheit dieser Worte unterschätzen: Wie Saviano wusste, beobachteten ihn Verwandte der
casalesi
-Bosse von der Piazza aus.
Binnen Tagen erreichte die Behörden die erste von mehreren glaubhaften Todesdrohungen gegen Saviano. Seit dieser Zeit lebt er permanent unter Polizeischutz. Zumindest schnellten dank seiner misslichen Lage die Verkaufszahlen in die Höhe: Den letzten Schätzungen zufolge hat sich
Gomorrah
in Italien mehr als zwei Millionen Mal verkauft und wurde in 52 Sprachen übersetzt. 2008 hat eine Verfilmung von
Gomorrah
– die meiner Ansicht nach sogar noch besser ist als das Buch – den Großen Preis bei den Filmfestspielen in Cannes gewonnen und brachte Saviano einem noch größeren Publikum nah. Der Autor von
Gomorrah
ist mittlerweile eine Berühmtheit: Millionen schalten den Fernseher ein, um seine Vorträge zu sehen, und seine Artikel treiben die Auflage der Zeitungen, die sie drucken, verlässlich in die Höhe.
Gomorrah
und sein Autor haben allerdings auch Kritiker. Einige der skeptischen Stimmen (»Er hat es nur wegen des Geldes getan!«) gehören ganz eindeutig den Anhängern der Camorra, oder Leuten, die Saviano den Erfolg missgönnen, oder dem üblichen Chor all jener, die ein diskretes Schweigen über das organisierte Verbrechen bevorzugen würden. Weniger leicht von der Hand zu weisen ist die Kritik derer, die behaupten, der Stil des Buches
Gomorrah
sei aufgeblasen, gelegentlich sogar anmaßend, der Autor neige zu Übertreibungen und vermische die Fakten mit Phantasie und ungefiltertem Hörensagen. Saviano selbst definiert sein Werk als »nicht-fiktiven Roman«, doch die meisten seiner Leser verstehen den Inhalt als ungeschönten Tatsachenbericht.
Gomorrah
stützt sich zweifellos auf Polizeidokumente wie die Operation Kassiopeia gegen den Handel mit Giftmüll, oder den Spartakus-Prozess gegen die Anführer der
casalesi
. Doch hin und wieder liest man auch Geschichten, die nicht aus verlässlichen Quellen stammen – wie die fesselnde Eingangsszene des Buches, die beschreibt, wie aus einem Container, der von einem Kran über den Hafen von Neapel gehievt wird, die gefrorenen Leichen illegaler chinesischer Einwanderer herausfallen. Andere Kritiker haben die Sorge, Savianos personalisierter Ansatz könne dazu beigetragen haben, dass er für viele zum Orakel oder Guru geworden ist. (Saviano ist nicht diese Ausnahmeerscheinung, als die ihn die Medien außerhalb Italiens zuweilen präsentieren: Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2012 wurden 262 Journalisten ihrer Recherchetätigkeit wegen bedroht, viele von ihnen von Gangstern.)
Dennoch spricht vieles eindeutig für Saviano und gegen seine Kritiker. Im Kielwasser seines Erfolges fanden auch andere mafiakritische Stimmen eine breitere Öffentlichkeit als gewöhnlich. Ein Beispiel ist der Staatsanwalt Raffaele Cantone, der aus Giugliano stammt, einem Ort auf dem Territorium der
casalesi
. Seine Bücher zeugen von den Einsichten, die er zwischen 1999 und 2007 gewinnen konnte, als er gegen die Camorra ermittelt und im Zuge dessen die Geschäftsinteressen der
casalesi
im Norden aufgespürt hatte. Nach dem Erscheinen von
Gomorrah
waren die
casalesi
hinreichend berühmt, und dies schadete natürlich einem kriminellen Kartell, das sich zuvor nach Kräften bemüht hatte, im Verborgenen zu bleiben. In den Jahren nach der Veröffentlichung
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