Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
hatte. Selbstmord, behauptete die Familie auch in diesem Fall. Maria Concettas Vater, Bruder und Mutter müssen sich derzeit wegen Körperverletzung mit Todesfolge, aber nicht wegen Mordes vor Gericht verantworten. Es gab viele öffentliche Debatten, ob dieser Vorwurf wirklich spiegelt, was Maria Concetta zugestoßen ist.
Tragödien wie diese werfen unweigerlich Fragen auf. Gehörten solche Gräuel vor dem Erwachen des juristischen Interesses an der Rolle von Mafiafrauen in den 1990 er Jahren schon lange zum Alltag der ’Ndrangheta? In der Frühphase der kalabrischen Mafia zählte die Zuhälterei zum Kerngeschäft. Damals waren demnach zahlreiche Frauen, die den
cosche
am nächsten standen, Prostituierte. Schläge, Entstellung und Mord waren die liebsten Machtinstrumente der kalabrischen Gangster, um ihre Mädchen in Schach zu halten. Zwischen den Weltkriegen lernte die ’Ndrangheta, dass es sich auf lange Sicht auszahlte, die Zuhälterei zu meiden und die Frauen auf andere Weise für ihre Zwecke einzuspannen: vor allem als Spielfiguren auf dem Schachbrett dynastischer Ehebündnisse. Falls die Geschichten von Maria Teresa Gallucci, Domenica Legato und Maria Concetta Cacciola uns etwas lehren, dann die Tatsache, dass ihre veränderte Rolle die Frauen der ’Ndrangheta noch immer nicht davor bewahrt, um der männlichen Ehre willen verletzt, verstümmelt oder getötet zu werden.
Die wichtigsten Fragen ergeben sich aus der Operation Crimine. Wie lange existiert die ’Ndrangheta bereits in dieser Form, ohne dass die übrige Welt davon Kenntnis hatte? Was mich angeht, so neige ich zu der Überzeugung, dass das Große Verbrechen keine Neuheit ist und dass die ’Ndrangheta schon immer eine einheitliche kriminelle Bruderschaft mit regem Innenleben war, darauf bedacht, ihre Strukturen straff zu organisieren (wann immer die Umstände es erlaubten). Seit den 1880 er Jahren verfügten sämtliche ’Ndrangheta-Zellen in Kalabrien weitgehend über dieselbe Struktur und pflegten erkennbar ähnliche Rituale. Die bei weitem wahrscheinlichste Erklärung für diese Tatsache ist, dass die ’Ndrangheta schon immer von einem Großen Verbrechen oder etwas in der Art geleitet wurde.
Die Menge der Filmclips über das Große Verbrechen, die 2009 von den Carabinieri aufgenommen wurden, reicht aus, um einem Historiker Gänsehaut zu verursachen. Noch nie gab es eine derart direkte Aufnahme von der Jahresversammlung der ’Ndrangheta. Im Zuge der vergangenen 100 Jahre sind immer wieder fragmentarische Beweise zum Polsi-Gipfel aufgetaucht, und Gerüchte gab es zuhauf. Doch vor der Operation Crimine war es niemandem gelungen, die tatsächliche Funktion dieses Gremiums zu bestimmen, das regelmäßig auf den höheren Lagen des Aspromonte tagte. Bis zum heutigen Tag gibt es keinen Präzedenzfall in Italien, der zweifelsfrei nachgewiesen hätte, dass die ’Ndrangheta tatsächlich existiert, als
eine
Bruderschaft, mit
einer
Struktur und
einem
Koordinationsorgan, nicht als lose Ansammlung krimineller Banden, die zuweilen flüchtige Bündnisse schließen. Ziel der Operation Crimine ist es, solch einen Präzedenzfall zu schaffen. In anderen Worten, die ’Ndrangheta wartet noch immer auf eine definitive gesetzliche Beschreibung ihrer Funktionsweise, wie sie der Mammutprozess von Falcone und Borsellino für die Cosa Nostra schuf. Italien ist erst allmählich bereit, einen kriminellen Geheimbund anzuerkennen, der, ähnlich wie die Cosa Nostra, fast sicher seit über 100 Jahren existiert.
Die ’Ndrangheta ist zweifellos Italiens derzeit mächtigste Mafia. Dank der jahrelangen Vernachlässigung durch den Staat und die öffentliche Meinung hat sie ihr Heimatterritorium unerbittlich im Griff, eine Fähigkeit ohnegleichen entwickelt, andere Regionen und Länder zu kolonisieren, und verfügt über gewaltige Reserven an Drogengeldern, die es ihr gestatten, die legalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen zu beherrschen. Und dennoch bleibt sie für die Ermittler ein weitgehend unerforschtes Neuland. Kalabrien muss erst noch die reiche Antimafia-Kultur entwickeln, die mittlerweile in Sizilien blüht. Die Anzahl der Unternehmer, die sich bislang weigern, Schutzgeld zu zahlen, ist winzig. In jeder erdenklichen Hinsicht ist Kalabrien eine Generation hinter Sizilien zurück, was den Kampf gegen das organisierte Verbrechen anbelangt.
Willkommen in der Grauzone
Es gibt innerhalb der Cosa Nostra ein Mitglied der Massakerbefürworter, das noch immer auf
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