Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Wellen faschistischer Repressionen und erneut in den späten sechziger Jahren. Als 1998 Guido Lo Forte, einer der letzten Bosse aus dem Flügel der Massakerbefürworter, verhaftet wurde, formulierte ein Richter, der an der Jagd beteiligt gewesen war, eine Warnung, die noch heute Gültigkeit hat:
»Die Erfahrung der vergangenen 20 Jahre hat uns gelehrt, dass für Triumphe keine Zeit ist. Die Cosa Nostra ist eine Organisation, deren Struktur dazu geschaffen ist, ein Revier zu beherrschen, ungeachtet der Rolle Einzelner, und sie hat eine enorme Kraft, sich zu regenerieren und zu verwandeln.«
Wenn ein Mafiaboss festgenommen wird, steht fast immer schon Ersatz bereit. Wenn 30 Bosse festgenommen werden, wie in der Operation Perseus, erheben sich neue Anführer aus dem Fußvolk. Die Soldaten der Cosa Nostra sind allesamt Verbrechergeneräle, wie Giovanni Falcone einmal sagte. Selbst wenn eine ganze Generation von Bossen und Soldaten eine Weile hinter Gittern sitzt, sind ihre Söhne und Neffen – mit den Werten der Gewalt und der Ehre erzogen – darauf erpicht, der Herausforderung zu genügen. Und wenn alte Bosse freigelassen werden, können auch sie wieder ihre Führungsrollen übernehmen. Keine kriminelle Organisation schätzt Erfahrung mehr als die Cosa Nostra. Unter den Männern, die im Zuge der Operation Perseus identifiziert wurden und die der neugegründeten
Art
von Kommission angehören sollten, war der legendäre Gerlando Alberti ( 81 ). Alberti sorgt seit den 1960 er Jahren immer wieder für Schlagzeilen. Er war der Boss, der den unverschämten Witz äußerte: »Die Mafia? Was ist das? Eine Käsesorte?«
Eine der oft unsichtbaren Kraftquellen der Cosa Nostra ist ihre Kontrolle über gewöhnliche Kriminelle. Die Mafia beherrscht und besteuert Verbrechen. Mafiosi bestreiten ihren Lebensunterhalt, indem sie von Dieben und Drogendealern ebenso Schutzgeld erpressen wie von Ladenbesitzern und Baufirmen. Die Kontrolle über die Unterwelt fängt im Gefängnis an und reicht bis hinaus auf die Straßen: Der örtliche Boss kassiert von allem seinen Anteil, bei Todesstrafe. Es gibt den Brauch in Sizilien, dass jeder, der einen Schwerlaster ausraubt, 24 Stunden warten muss, während Mafiosi die Beute prüfen; gehört sie zu einer Firma mit den richtigen Verbindungen, muss sie zurückgegeben werden. Dass gewöhnliche Verbrechen aussterben, ist auf Sizilien nicht wahrscheinlicher als anderswo auf der Welt, und die Autorität der Cosa Nostra über Kleinkriminelle wird noch lange nicht beseitigt werden.
Furcht ist aber nicht die einzige Ressource, auf welche die Ehrenwerte Gesellschaft Siziliens zurückgreifen kann. Auch ist die Mafia nie einfach nur ein Club von Halsabschneidern gewesen. 1876 bezeichnete ein Soziologe Mafiosi als »Mittelschicht-Schurken« – womit er Menschen meinte, die Aufstiegsmöglichkeiten besaßen und Meister waren in der wohlüberlegten Anwendung von Gewalt. Diese Mittelschicht-Schurken waren geschickt darin, korrupte Netzwerke zu schaffen, und hatten ihre Finger in einigen der fortschrittlichsten Sektoren der sizilianischen Wirtschaft, die sowohl auf die passive als auch die aktive Unterstützung durch die Gesellschaft um sie herum zählen konnte. Die Cosa Nostra schuldet ihre Fähigkeit, sich zu regenerieren, weitgehend der Tatsache, dass sie stets Männer in ihren Reihen hatte, die sich der wirtschaftlichen, beruflichen und politischen Elite anzupassen vermochten, Männer, denen man ihre Rolle als Autorität abnahm. Das journalistische Modewort der Stunde für solche Leute ist »Grauzone«: Damit ist ein Gesellschaftsbereich gemeint, dem eine Komplizenschaft mit den Bossen schwer nachzuweisen ist und in dem die Partnerschaft zwischen Bossen und Geschäftsleuten oder zwischen Pistole und Laptop keineswegs immer zugunsten von Ersterem ausfällt. Die Grauzone ist ebenso unsichtbar wie allgegenwärtig: Man sieht sie nicht auf YouTube.
Michele Aiello, ein Bauunternehmer, der Sizilien mit Kliniken und Krankenhäusern ausstattete, kam direkt aus dieser Grauzone. Er fungierte als Strohmann für Bernardo Provenzano, den »Traktor«. Nachdem er 2011 für schuldig befunden worden war, wurde sein gewaltiges Vermögen, das sich auf 800 Millionen Euro belief, konfisziert. (Alarmierenderweise wurde ihm bereits nach wenigen Monaten seiner 15 -jährigen Haftstrafe eine Umwandlung in Hausarrest bewilligt, mit der Begründung, er sei allergisch gegen Bohnen.)
Ein weiterer Ganove aus der Mittelschicht ist
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