Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
freiem Fuß ist – ein Boss, dessen Macht im Zusammenhang steht mit dem Aufstieg der Corleoneser. Sein Name lautet Matteo Messina Denaro. Mittlerweile 50 Jahre alt, ist er seit 20 Jahren auf der Flucht. Laut Aussage des Innenministeriums wird er wegen »Mafiazugehörigkeit, vielfachen Mordes, Sachbeschädigung, Besitzes von Sprengstoff, schweren Diebstahls und dergleichen mehr« gesucht. Messina Denaro gehört zur Mafiaaristokratie und ist der Sohn eines mächtigen Bosses. Er hatte lange Zeit eine österreichische Freundin, und einige seiner beschlagnahmten Briefe enthüllen, dass er sich zu keiner Religion bekennt. Sein Stützpunkt befindet sich in Trapani, Siziliens westlichster Provinz. Dieser Umstand hält ihn davon ab, die Cosa Nostra von ihrer Hauptstadt Palermo aus zu lenken. Doch er hatte dort stets ein Netz aus Unterstützern, vornehmlich im Bezirk Brancaccio. Und während der Operation Perseus wurde klar, dass Messina Denaro bei den Gesprächen innerhalb der Cosa Nostra über die Errichtung einer
Art
von Kommission in Palermo großen Einfluss besaß. Ob Messina Denaro nun der letzte einer alten Sorte Bosse ist oder der erste einer neuen Sorte, lässt sich schwer sagen.
In den vergangenen Jahren haben sich die Sizilianer an die Szenen gewöhnt, wenn ein flüchtiger Mafioso verhaftet wird: Polizisten und Carabinieri mit Sturmmasken und kugelsicheren Westen stoßen triumphierend die Fäuste in die Luft und fahren ihren Gefangenen unter heftigem Gehupe zum Basislager. Jubelnde Menschen versammeln sich vor dem Polizeipräsidium und singen »Wir sind das wahre Sizilien«. Dann kommt der Gefangene selbst in Sicht, blinzelt teilnahmslos ins Blitzlicht der Fotografen, während alle im Geiste sein Gesicht mit dem Phantombild vergleichen.
Es steht zu hoffen, dass diese Szenen sich bald wiederholen, wenn die Festnahme Matteo Messina Denaros gefeiert wird. Die Verhaftung des Bosses aus Castelvetrano würde in der Tat einen weiteren historischen Sieg über ein altes Übel bedeuten.
Historisch, aber sicherlich nicht definitiv. Sizilianer hätten alles Recht der Welt, über das Ende von Messina Denaros Karriere zu jubeln. Doch trotz der vielen guten Neuigkeiten seit den Tragödien von 1992 glauben nur wenige Inselbewohner, dass die Cosa Nostra für immer bezwungen ist. Die Gründe dafür – wie die gesamte Geschichte des organisierten Verbrechens in Sizilien – liegen zum Teil in der noch immer vorhandenen Stärke der sizilianischen Mafia und zum Teil in Italiens Schwäche.
Alle sechs Monate erstellt die
Direzione Investigativa Antimafia
(ein Äquivalent zum FBI , eingerichtet von Giovanni Falcone) einen ausführlichen Bericht zum aktuellen Stand im Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Zu den unverfänglichsten, aber signifikantesten Zahlen, die darin verzeichnet sind, gehören die Fälle von »Vandalismus, gefolgt von Brandstiftung« – ein vielsagender Hinweis, dass hier Schutzgelderpresser am Werk sind, und der Beweis für die Fähigkeit der Cosa Nostra, ihre Drohungen wahrzumachen, ohne einen Mord zu begehen. 2011 gab es auf Sizilien 2246 Fälle von Vandalismus, gefolgt von Brandstiftung: die höchste Rate im Vergleich zu jeder anderen Region Italiens, und ein Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren.
Natürlich spiegelt diese Zahl bei weitem nicht das volle Ausmaß des Schutzgeldsystems der Cosa Nostra. Zum einen verstecken sich Erpressungsaktionen zwischen vielen anderen Verbrechensarten: Der Einbruch in ein Lagerhaus zum Beispiel ist oft nur eine Einladung an den Besitzer, die richtige Person zu bezahlen. Doch lässt sich auf diese Weise erahnen, wie schwierig es für Sizilien ist, sich aus dem Griff der Schutzgelderpresser zu lösen.
Die
Addiopizzo
-Bewegung gegen das Schutzgeld bleibt weitgehend auf die wohlhabenderen Viertel Palermos beschränkt. Viel geringer ist ihr Einfluss auf die Vorstädte und umliegenden Siedlungen, wo die sizilianische Mafia ihren Ursprung hatte und ihre Macht noch immer am größten ist. Die Anzahl der Unternehmen, die
Addiopizzo
unterstützen, ist seit 2004 stetig gewachsen. Derzeit jedoch stockt sie bei 723 . Es bleibt noch sehr viel zu tun.
Warum hat die derzeitige Schwäche der Cosa Nostra nicht eine umfassende Revolte gegen das Schutzgeld ausgelöst? Eine Erklärung gibt die Angst. Die Sizilianer sind sich nur allzu bewusst, dass die Cosa Nostra jede Schwäche seitens der Behörden nutzen wird, um neue Kraft zu sammeln, wie bereits nach zwei unterschiedlichen
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