Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
der Wachtmeister heraus und verhaftete prompt Salvatore wegen des Mordes an dessen eigenem Bruder. So war die Mär der Mafia vom Brudermord in Umlauf gekommen – eine »zweifache Rache«, wie der Alte sie nannte.
Viele Male in 48 Jahren Dienst für Recht und Ordnung stellte Sangiorgi Anträge auf Beförderung. Viele Male schrieben seine Vorgesetzten ihm glühende Empfehlungen: tapfer, tüchtig und taktvoll nannten sie ihn. Dies waren die Attribute, auf die er in den ersten Monaten als Mafiajäger zurückgreifen konnte, als Calogero Gambino am Arm seines Anwalts in seine Amtsstube gehumpelt kam.
Tapfer. Auch wenn Giovanni Cusimano, »der Schwarze«, mittlerweile tot war, betraf die Ermittlung – Sangiorgi war sich dessen wohl bewusst – viele andere gewalttätige und gut vernetzte Mafiosi.
Tüchtig. Sangiorgi musste sein gesamtes ermittlerisches Können mobilisieren, um zu überprüfen, was der alte Gambino ihm erzählt hatte. Er stellte rasch sicher, dass die Geschichte des Alten perfekt mit den Fakten übereinstimmte.
Und vor allem taktvoll. Der Fall führte Sangiorgi immer tiefer in die unselige Klüngelei des Staates mit der kriminellen Sekte, die den Tod in die Zitrusgärten der Conca d’Oro gebracht hatte.
Sangiorgi fand erdrückende Beweise gegen den Wachtmeister der Carabinieri, der aus Cusimanos Villa gekommen war, um Salvatore Gambino zu verhaften. Sein Informant bei den Carabinieri erklärte, wie die Mafia den Wachtmeister mittels einer zweistufigen Strategie in die Falle gelockt hatte, die sie oft gegen Vollzugsbeamte zum Einsatz brachte. Cusimano und andere Mafiabosse hatten dem Wachtmeister zunächst geschmeichelt: Sie nahmen ihn des Öfteren mit hinaus aufs Land, wo er, wie Sangiorgi sich ausdrückte, den
tavulidde
beiwohnen durfte. Der Inspektor hatte während seines Aufenthaltes auf der Insel offenbar einige sizilianische Dialektwörter aufgeschnappt. Eine
tavulidda
war (und ist es noch heute) ein geselliges Mittagsmahl unter freiem Himmel, zu dem Männer sich zusammenfinden, um sich an gebratenem Ziegenfleisch, Artischocken,
macco
(Püree aus Saubohnen) und dazu Wein so dunkel wie Melasse gütlich zu tun. Die Mafia brachte dem Wachtmeister demnach die Gebräuche vor Ort näher.
Mafiamoral. Ein äußerst seltenes Regelwerk der Cosa Nostra aus dem Jahr 2007 . Zwei dieser Regeln, die schlecht gedruckt auf ein einzelnes Blatt Papier gepresst sind, lauten: »Achte deine Frau«, und »Folgende Personen können nicht der Cosa Nostra angehören: Wer einen nahen Verwandten in der Polizei hat. In wessen Familie emotionaler Verrat herrscht. Wer sich sehr schlecht benimmt oder gegen moralische Werte verstößt.«
Die zweite Stufe erforderte die Frauen der Mafiosi, die sich an die Ehefrau des Wachtmeisters heranmachten und ihr sagten:
»In der Piana dei Colli muss jede Frau, die Probleme vermeiden will, in der Nähe ihres Mannes bleiben.«
Eine versteckte Drohung, die dennoch so deutlich ist, dass es einen schaudern macht. Seit über eineinhalb Jahrhunderten ist diese Art der schmeichlerischen Einschüchterung ein wirksamerer Schutz der Mafia als jede andere Bestechungsform in ihrem üppigen Repertoire. Es gibt kein probateres Mittel, um den Staat außer Gefecht zu setzen, als die Kampffähigkeit seiner Einsatzkräfte vor Ort zu schwächen.
Sangiorgis Ermittlungen konzentrierten sich sodann auf den Hauptzeugen der Anklage im Fall des Brudermords. Unweit der Stelle, wo Antonino Gambino zu Tode gekommen war, hatte ein Soldat Wache gestanden, der die Schüsse gehört hatte und zum Tatort gelaufen war. Dort angekommen, hatte er zwei Männer über dem Opfer stehen sehen, das in den letzten Zügen lag. Die zwei Männer gaben Fersengeld. Doch der Soldat hatte einen der beiden deutlich gesehen, der einen Strohhut trug mit einem schwarzen Band. Später, im Zuge einer Gegenüberstellung, deutete er auf Salvatore Gambino und behauptete, er sei derjenige mit dem Strohhut gewesen.
Der alte Gambino wiederum ließ Sangiorgi wissen, dass der Zeuge gelogen habe und die Gegenüberstellung abgesprochen gewesen sei. Sangiorgi fand schon bald Beweise, die die Vorwürfe des Alten bestätigten: Nachdem
il Nero
Cusimano erschossen worden war, hatte man bei seiner Leiche eine Quittung für ein Darlehen über 200 Lire gefunden. Der Empfänger des Darlehens war der Kommandant eines Armeezugs, der in San Lorenzo stationiert war – derselbe Zug, dem der Hauptzeuge angehörte. Dieses Darlehen deutete sehr darauf hin,
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