Omka: Roman (German Edition)
»Dein Körper wollte es, und du hast es verhindert.«
Er schaute sie an und fand in ihrem Gesicht kein Anzeichen von Witz oder Ironie. Er fühlte sich plötzlich irgendwie schuldig, und dann wurde er böse darüber, dass sie offensichtlich erwartete, dass er sich dafür rechtfertigte, sein Leben gerettet zu haben.
»Was soll ich jetzt sagen?«, fragte er. »Soll ich mich entschuldigen, dass ich noch lebe? Muss ich mich erklären, weil ich nicht ersticken wollte?«
Sie umarmte ihn so schnell sie konnte und küsste ihn auf den Mundwinkel. »Jetzt hast du mich falsch verstanden«, sagte sie. »Ich meinte das nicht so, ich habe nur eben darüber nachgedacht, was wir ohne den medizinischen Fortschritt wären. Wie viele Leute dann noch leben würden. Ich meine, jedes Kind, das einmal eine Operation hatte oder Medikamente gebraucht hat, wäre dann tot.«
Er sah über ihre Schulter weg in den perlgrauen Himmel, und sein Ärger verflog. »Bist du mir jetzt böse«, fragte sie ihn.
»Nein, nein«, sagte er schnell und sah aus dem Fenster, weil es ihm unangenehm war. Das Gras war hochgewachsen und musste dringend gemäht werden, dachte er sich.
»Schade«, sagte sie in die entstandene kurze Stille hinein, »ich habe dich noch nie böse gesehen«, und sah ihn von der Seite aus schief an.
An seinem Hemd vorne zeigte sich ein kleiner roter Fleck.
Am Abend vor dem Zubettgehen wusch sie sich und flocht ihre Haare zu Zöpfen. Er war die ganze Zeit nervös gewesen, seit sie ihm gesagt hatte, sie hätte ihn noch nie böse gesehen. Ständig dachte er daran, wie sie das gemeint haben könnte. Sein Kopf war wirr, und er war erregt, ohne zu wissen, warum. Er hörte das Wasser rauschen, und es war ihm, als würde er etwas Geheimes belauschen, etwas, das er eigentlich gar nicht hören durfte, und fühlte sich wieder wie ein kleines Kind.
»Steh doch nicht da wie bestellt und nicht abgeholt«, dachte er sich und ging in die Küche. Dort fand er eine halbvolle Flasche Rotwein und nahm sich ein kleines Glas davon.
»Wahrscheinlich lebe ich schon zu lange alleine. Wenn man immer ohne Frau ist, versteht man die Frauen insgesamt wahrscheinlich überhaupt nicht mehr. Ich hätte ja fragen können, wie sie das gemeint hat«, dachte er weiter. Ihm fiel ein, dass er sich jetzt genau darüber Gedanken machte, worüber er sich eigentlich keine machen wollte, und dass der blaue Raum etwas damit zu tun hatte, mit dem, dass man sich nicht immer alles überlegen musste, nicht immer in den Strukturen dieser Welt herumirren musste, sondern frei handeln konnte. Aber bevor er zu Ende gedacht hatte, stand Omka bei ihm in der Küche.
»Ich wollte nur noch«, sagte sie, »darf ich mir ein Glas Wasser nehmen?« und lächelte ihn mild an.
Da dachte er daran, dass sie im Bad oben schließlich auch Wasser hatte und dass sie deshalb doch nicht in die Küche zu kommen brauchte, und glaubte, etwas zu begreifen, was mit der Möwe zu tun hatte und der Situation am Fluss. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Er packte sie am Arm, trat nahe an sie heran und sagte: »Omka, du hast mich heute wirklich wütend gemacht! Was denkst du dir eigentlich dabei?«
»Du tust mir weh«, stieß sie hervor, und ihre Augen wachten auf. »Lass mich los, hast du den Verstand verloren?«
Er erschrak und ließ sie los. Sie rieb die Stelle an ihrem Arm, wo sich die Haut rot verfärbte. Ihr Blick fiel auf das Glas.
»Du bist betrunken.«
»Nein«, sagte er, »das stimmt nicht!«
»Doch«, sagte sie, »und ich war heute in der Klinik, und sie haben mir gesagt, dass ich keine Kinder habe, aber schon mindestens 35 Jahre alt bin, ich weiß noch immer nicht, wer ich bin und was überhaupt passiert ist, wahrscheinlich habe ich gar niemanden außer dir, und du benimmst dich, als wäre ich ein … Spiel…zeug!«
Ihr Blick senkte sich auf den blauen Lanolinfußboden, und sie begann zu weinen. Er fühlte sich schäbig, wie nach einer Straftat.
»Ich dachte«, murmelte er, »entschuldige bitte.«
Das war die erste Nacht, dass sie bei ihm im Bett schlief.
Als er am nächsten Morgen aufstand, war sie schon wach und hatte Kaffee gekocht. Er freute sich und sah sie an.
»Deine Augen sind so dunkel wie die von einem Vogel oder einem Fisch, weißt du das«, sagte er lachend zu ihr und nahm die Zeitung. Der Vorfall vom letzten Abend geisterte noch in seinem Kopf herum, aber er beschloss, ihn zu verscheuchen. Schließlich ist man seinen Gedanken ja nicht ausgeliefert.
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