On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)
Er verkehrte am liebsten mit seinen Kommilitonen und wurde bald studentischer Mitarbeiter seines Politologieprofessors. Erste Anzeichen eines beruflichen Ehrgeizes. Irgendwann hatte er Berlin wieder verlassen, weil woanders bessere Möglichkeiten auf ihn gewartet hatten. Jetzt saß Roland in Alices Wohnzimmer, denn er war gerade zufällig für ein paar Tage in der Stadt. Beruflich, wie er nicht vergaß auszuführen.
»Tilman, was los, alles klar?«, begrüßte er mich. Etwas Frankfurter Straßenduktus hatte er sich für private Gelegenheiten doch noch bewahrt.
»Der Roland, na so was! Wo kommst du denn her?«
Ich war tatsächlich erstaunt, ihn dort anzutreffen, hatte ich doch geglaubt, er sei so beschäftigt, dass ich ihn höchstens beim zehnjährigen Jubiläum unseres Abiturs wiedersehen würde. Er kam gleich zum Thema:
»Eigentlich war ich ja gerade auf Urlaub in Indien. Aber mein Assistant Project Manager hat mich angerufen, hat gesagt, es gibt einen wichtigen Termin in Berlin, abbrechen, herkommen! Ja, da musste ich halt kommen.«
Jeder normale Mensch hätte sich über seinen Chef geärgert. Er dagegen schien stolz darauf zu sein, einen Job mit so wichtigen Terminen zu haben, dass man ihn eigens aus Indien einflog.
»Was machst du denn jetzt?«, fragte ich.
»Ja, was soll ich schon machen? Ich erledige den Termin hier, und mein Urlaub ist vorbei. Ich flieg doch für die fünf Tage nicht wieder zurück nach Mumbai. Hier ist sowieso schon genug Arbeit liegengeblieben.«
»Ich meine beruflich. Was arbeitest du denn jetzt?«
»Ach so. Unternehmensberatung«, sagte er.
Das wäre das Letzte gewesen, auf das ich getippt hätte. Roland war Lehrerkind, und seine Eltern gehörten zur Wohlfühlfraktion der 68er: Frankreichurlaub, Weinabende mit Käseplatte und beim »Spiegel«-Lesen den Kopf schütteln und »schlimm, schlimm« sagen.
Zu Schulzeiten trug Roland seine politische Überzeugung vor sich her und sagte Sätze wie: »Jetzt kommt wieder der Marxist in mir durch.« Gern fing er Diskussionen an, wobei es ihm darauf anzukommen schien, seine Diskussionspartner der Heuchelei zu überführen. Er hatte zu allem eine Meinung, und sobald er sich zu irgendetwas eine neue Meinung ausgedacht hatte, fand er schnell einen Anlass, sie kundzutun.
Dabei war Roland keine Luftnummer. Seine Argumente hatten meistens Hand und Fuß. Er war ein großer Freund von Kunst und Literatur. Zu Schulzeiten hatte er freiwillig Molière, Montesquieu und Corneille im Original gelesen, spielte die Hauptrolle in der Theater- AG , ging mindestens einmal im Monat ins Theater und sprach ein Französisch, das mancher Franzose schon als besonders vornehm, wenn nicht sogar gestelzt empfunden hätte. Für das Abibuch unseres Jahrgangs hatte er sich in einem Sessel sitzend, Pfeife rauchend und die französische Satirezeitung »Le Canard Enchaîné« lesend fotografieren lassen. Wenn man ihn damals nach seinen Berufswünschen fragte, hatte er immer »arbeitsloser Akademiker« geantwortet. Er rauchte den billigsten Tabak, hatte lange Haare und lief im Winter in einem alten Mantel herum, der eigentlich mehr Brandloch war. Jetzt trug er eine Anzughose, ein langärmliges Hemd und eine Anzugweste, während der Rest der Gesellschaft kurze Hosen und T-Shirts trug und selbst in dieser dünnen Bekleidung in der Sommerhitze zerfloss.
»Das hätte ich ja nicht gedacht«, sagte ich. »Ich hab immer gedacht, du würdest mal irgendwas mit Kultur machen. Goethe-Institut oder so was. Aber Unternehmensberatung …«
»Jaja«, sagte Roland. »Es gibt schon einige Leute, die den Kontakt mit mir abgebrochen haben, nur weil ich jetzt bei McKinsey arbeite. Aber da muss man sich halt denken: Gut, mit solchen intoleranten Opportunisten will ich eh nix zu tun haben.«
Darauf hatte ich zwar nicht angespielt, aber Roland schien trotzdem ein dringendes Bedürfnis zu haben, sich zu verteidigen. Offenbar hatte er schon mehrere Angriffe gehört.
»Und das ist deine Freundin?«, fragte er und machte eine Kopfbewegung in Richtung Anna, die gerade einem Typen zeigte, wie man eine Bierflasche mit einem Feuerzeug öffnete.
»Das ist Anna, meine Mitbewohnerin.«
»Du wohnst in einer WG ?«
»Hab ich doch schon immer.«
»Ja, aber ich meine: immer noch?«
»Ja, immer noch.«
Das Spiel begann. Gemeinschaftliches Fußballgucken war für mich einer der größten Sommerspäße. Mit Freunden in einer Kneipe zu sitzen gehörte zu meinen Hobbys, seit ich mit fünfzehn das erste Mal
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