On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)
sich.
Robert Gernhardt
In der dritten Reihe am Gang saß eine Kleinfamilie. Klaus ging gerade mit einem Tablett Cornetto übers Deck.
»Mama, kann ich ein Eis haben?«, fragte die Tochter, die vielleicht zwölf Jahre alt war.
»Nee, du wartest jetzt mal mit deinem Eis.«
Wie herabwürdigend Possessivpronomen sein können. Meine Eltern hatten gerne gesagt: »Mach mal deine Musik leiser.« (Auch schön: »Deine Musik da.«) Warum sollte die Tochter »mit ihrem Eis« warten, wenn es doch gerade angeboten wurde?
»Aus Prinzip«, hätte die Mutter wahrscheinlich geantwortet. Man kann halt nicht immer haben, was man will. Das muss die Kleine mal lernen. Die Mutter war eine ganz Prinzipientreue und wollte ihrer Tochter beibringen, was Disziplin und Entbehrung bedeuteten. Ohne das kam man ja heutzutage nicht weit. Und Enttäuschung. Sie würde auch lernen müssen, dass das ganze Leben Enttäuschung bedeutet.
Die Mutter war latent genervt, das aber chronisch. Als sie ihren Mann geheiratet hatte, waren sie tatsächlich glücklich und verliebt gewesen, sie hatten sich auf die Zukunft gefreut, wie man das so erwartete. Auch nach der Geburt der Tochter hatten sich beide gefreut. Doch mit dem Tod ihrer eigenen Mutter hatte sich für die Frau einiges verändert. Ihre alte Familie war weg und damit ihr Halt, ihr Ausgleich zur neuen Familie. Auf einmal war ihr bewusst geworden, dass sie bisher immer nur gegängelt worden war: Wegen der Schwangerschaft hatte sie ihren Job für eine Zeit aufgeben müssen und konnte danach nur eine Halbtagsstelle antreten. Der feine Herr hingegen war den ganzen Tag im Büro. Sie hatte auch noch den Haushalt zu erledigen und sich mit wechselnden polnischen Putzfrauen herumzuärgern. Er bestimmte, was angeschafft wurde, wohin man im Urlaub fuhr, auf welche Schule man die Tochter schickte. Aber jetzt war Schluss. Sie lebte jetzt ihr eigenes Leben. Zwar tat sie genau das Gleiche wie vorher auch: Halbtagsstelle, Haushalt, Kind. Doch ließ sie sich nun von ihrem Mann nichts mehr sagen. Der hatte es nicht besser verdient, dieser bequeme Despot.
Hatte sie vorher über kleine Macken und Eigenheiten ihres Mannes hinwegsehen können, so waren sie ihr nun unerträglich. Ihm beim Essen zuzusehen ekelte sie an. Bei dem Gedanken, dass sie mit diesem Mann mal Sex hatte, ekelte sie sich auch vor sich selbst. Wie er mit Arbeitskollegen über das Geschäft sprach und sich dabei wichtig fühlte. Wie er über alle schimpfte, die ihm nicht in den Kram passten: Geschäftskontakte, Politiker, Nachbarn, Freunde der Tochter und deren Eltern. Nirgends konnte er so wütend werden wie vor dem Fernseher, wenn er alles kommentierte und alle verfluchte. Schon mit Ende vierzig war er verbittert wie ein sechzigjähriger Alkoholiker. Wie er immer die gleichen Witze machte, jahrelang, und glaubte, sie würden bei jedem Mal noch witziger. Sobald irgendjemand im Raum das Wort »Qualle« sagte, konnte man sicher sein, dass er den alten Pennälerreim von sich gab: »Die Qualle durch das Weltmeer segelt, es quietscht, wenn man im Sande vögelt.« Von diesen saudummen Sprüchen hatte er einige parat. »Die Zeder wächst im Libanon, auch Cäsar onanierte schon.« »Den Puma fängt man mit der Falle, der Puff ist keine Lesehalle.« Wenn sie im Winterurlaub nach Sonthofen im Allgäu fuhren und das Ortsschild des Ortes Bad Hindelang passierten, sagte er jedes, aber auch jedes verfluchte Mal: »Hindelang und vorne kurz.« Wahrscheinlich war das der einzige Grund, warum er überhaupt noch in Urlaub fuhr. Er wusste, dass sie das nicht mochte, und gab deshalb beim Dummschwätzen gern richtig Gas.
Ihre Konsequenz war: Rückzug auf dem Ehefeld, Angriff auf dem Kinderfeld. Ihr Mann war verloren, und sie interessierte sich nicht mehr für ihn. Wenn hier noch irgendetwas zu retten war, dann ja wohl die Tochter. Die sollte es einmal besser haben, und so drängte sie sie zum Fleiß in der Schule, zu guten Umgangsformen und fragte sie über ihre sozialen Kontakte aus (»Was ist denn der Vater von Beruf?«). Für eine Zwölfjährige war das unangenehm, aber das war der Mutter egal. (»Da muss die Kleine jetzt durch.«) Deshalb gab es jetzt auch kein Eis.
»Hier Eis gewünscht?«, fragte Klaus.
»Geben Sie mir mal zwei«, sagte der Vater.
»Erdbeer, Nuss, Buttermilch?«
»Ich will Erdbeer«, sagte die Tochter, und der Vater kaufte einmal Erdbeer und einmal Nuss für sich selbst.
»Vier Euro sechzig«, sagte Klaus. »Hamse passend? Ja? Danke. Mit
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