Ondragon - Menschenhunger
Spiegelbild?“
Ondragon runzelte die Stirn. „Meinen Sie, ob ich mit mir selbst spreche?“
„Nein, ich meine, ob Sie mit Ihrem Spiegelbild sprechen.“
Ondragon überlegte. Wo war da der Unterschied? Er fasste sich an die Stirn, fühlte sich, wie in Watte gepackt. Sein Kopf war seltsam leer, ganz im Gegensatz zum letzten Mal, als ihm nach der Hypnose die Gedanken wie Unkraut aus sämtlichen Gehirnwindungen gesprossen waren. Er versuchte, sich zu konzentrieren und kam zu dem überraschenden Schluss, tatsächlich des Öfteren mit seinem Spiegelbild zu reden. Er nickte. „Jetzt, da Sie mich darauf ansprechen … es stimmt. Aber was soll das mit meiner Phobie zu tun haben?“
„Nun, ich habe einen gewissen Verdacht, was den Zwischenfall in der Bibliothek anbelangt, aber den möchte ich vorerst für mich behalten. Ich will Sie nicht in eine möglicherweise falsche Richtung beeinflussen, das müssen Sie verstehen.“ Dr. Arthur steckte den silbernen Kugelschreiber in die Brusttasche seines Kittels. „Sie bekommen jetzt noch eine Hausaufgabe von mir. Und zwar wäre es hilfreich, wenn Sie versuchen würden, sich morgen früh an das zu erinnern, was Sie geträumt haben. Träume spielen in der Psychoanalyse eine wesentliche Rolle. Konzentrieren Sie sich auch auf Gefühle und Stimmungen nach dem Aufwachen, schreiben Sie sich auf jeden Fall alles auf. Viele Menschen vergessen sofort, was sie geträumt haben. Ich möchte mit Ihnen morgen darüber sprechen, ja?“
Ondragon nickte erneut.
„Und falls Ihnen tagsüber irgendwelche ungewohnten Erinnerungen oder Flashbacks kommen, vielleicht aus Ihrer Kindheit, so notieren Sie sich diese ebenfalls. Die Hypnose ist wie ein Pflug, sie bricht die oberste Kruste Ihrer Erinnerungen auf und bringt alte Gedanken wieder zurück an die frische Luft.“
Ondragon bewunderte Dr. Arthur für seine Metaphern. Sie waren zwar nicht besonders poetisch, dafür aber gut verständlich. Er verabschiedete sich von dem Psychotherapeuten und verließ das Sitzungszimmer.
Als er am Abend unter die Laken seines Bettes kroch, legte er sich gewissenhaft seinen Notizblock bereit, um darin seine Träume aufzuschreiben. Dann zog er sich die Decke bis zum Kinn und schloss die Augen. Er war hundemüde. Vernon hatte ihm auf dem Basketballplatz ganz schön zugesetzt. Der Masseur war trotz seiner massigen Gestalt ein sehr beweglicher Spieler und ziemlich treffsicher, und Ondragon hatte alle Mühe gehabt, sich gegen den Koloss zu behaupten. Doch Basketball zählte nun einmal zu den Dingen, die er wirklich gut konnte, und so hatte er die Sache am Ende mit einem 3-Punkte-Wurf klar gemacht. Vernon war ein guter Verlierer und hatte ihn anschließend noch auf einen Drink auf der Terrasse eingeladen, wo sie schwitzend den Sonnenuntergang betrachtet hatten. Danach war er unter die Dusche gegangen und lag nun im Bett. Doch der Schlaf wollte trotz, oder gerade wegen der Erschöpfung nicht kommen. Ondragon wälzte sich von einer Seite auf die andere und spürte hier und da Blessuren vom robusten Ballspiel in seinen Gliedern pochen. Er war eben doch nicht mehr der Jüngste.
Nach einer Weile schlaflosen Herumwälzens, beschloss Ondragon, wenigstens ein wenig nachzudenken, wenn er schon nicht einschlafen konnte. Im Dunkeln öffnete er die Augen und starrte an die Decke, während er die Geschehnisse des Tages gemütlich in der Zentrifuge kreisen ließ. Die unerwünschte Intervention des Terrorduos Shamgood/ Norrfoss war dabei entschieden das Unangenehmste gewesen. Seine Mutter, eine Agentin! Was hatte die beiden Spinner nur dazu getrieben, solch einen Nonsens zu behaupten? Trotzdem wühlte diese Angelegenheit tief in seinem Innern. Ondragon schloss die Augen und versuchte sich an die Hypnose zu erinnern, doch die Bilder blieben verschwommen. Dr. Arthurs Worte hingegen klangen ihm noch deutlich in den Ohren. Der Doc war sich sicher, dass noch mehr hinter dem Vorfall in der Bibliothek steckte außer dem Bergrutsch aus Büchern. Nur, was sollte das sein? Ondragon streifte durch seine Erinnerungen wie ein Tiger durch den Dschungel, aber er sah immer wieder nur die Tonnen von Büchern vor sich, die auf ihn herabstürzten, und seine weinende Mutter. Doch noch während er sich fragte, warum sie so traurig war, geschah plötzlich etwas Sonderbares: Ein Schatten materialisierte sich neben seiner Jungengestalt, die unter den Büchern begraben lag. Es sah aus wie eine dichte Wolke aus winzigen, schwarzen Fliegen. Einen Moment
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