Ondragon - Menschenhunger
lang schwebte sie lautlos über den zusammengestürzten Büchern und verschwand dann in einem großen Spiegel, der jetzt an der Wand hing, wo vorher noch das Bücheregal gestanden hatte. Ondragon blickte gebannt in den Spiegel und erkannte darin sich selbst. Sein Mund öffnete sich, als wolle er sich selbst etwas mitteilen. Seine Lippen formten das Wort „Du“ und „Mörder“, und eine Hand hob sich und zeigte auf ihn. Aber noch bevor Ondragon sich dessen bewusst werden konnte, dass nur sein Spiegelbild die Hand gehoben hatte, nicht aber er, verwandelte sich sein Ich im Spiegel in ein zotteliges Monster mit rotglühenden Augen. Erschrocken prallte er zurück und fiel auf den Rücken. Geifer lief der schauerlichen Kreatur aus dem Maul, und in einer Klaue hielt sie Rumsfelds blutigen Kopf. Sie bewegte sich mit abgehackter Gewandtheit, unnatürlich wie ein Untoter in einem schlechten Zombiefilm - irgendwie lächerlich und doch gefährlich! Dann drehte sie den Kopf ruckartig in Ondragons Richtung und fixierte ihn mit sengendem Blick. Ein bösartiges Fauchen drang aus ihrer Kehle. Entsetzt starrte Ondragon auf den Spiegel und hoffte, dass das Monster dort gut eingesperrt wäre.
Doch das war es nicht. Die Bestie holte kurz Schwung, sprang durch das Glas des Spiegels, als sei es eine nachgiebige Membran, und landete lautlos neben seinem Bett. Wie gelähmt lag Ondragon da, das Wesen wie ein haariger Muskelberg über ihm. Beißender Gestank wehte ihm entgegen und raubte ihm den Atem.
Die Pistole! , schoss es ihm durch den Kopf. Doch sogleich starb jede Hoffnung. Die Waffe lag im Tresor, und das Monster stand genau zwischen ihm und dem Safe. Es richtete sich auf seinen stelzenartigen Hinterbeinen zu seiner vollen Größe auf und stieß dabei mit dem Kopf an die Zimmerdecke. Rot glühten die Augen aus der unförmigen Masse seines Schädels, und der Gestank, der seinem Fell entströmte, betäubte Ondragons Sinne. Bereit, jeden Moment aus dem Bett zu schnellen, krallte er seine Finger in das Laken. Doch das Monster rührte sich nicht.
„Was willst du?“, warf Ondragon dem unheimlichen Besucher entgegen.
Die Bestie blieb starr. Doch dann neigte sie den Kopf zur Seite und sah ihn durchdringend an. Zuckend bewegten sich die Sehnen unter ihrem räudigen Fell.
„Was willst du von mir?“ Sämtliche Fasern in Ondragons Körper waren gespannt und steinhart. Würde er gegen dieses Vieh überhaupt eine Chance haben?
Der Wendigo hob einen seiner grotesk langen Arme und holte aus. Ondragon biss die Kiefer zusammen, als er die scharfen Zähne der Bestie im Mondlicht aufblitzen sah. Einen Augenblick zitterte der behaarte Arm in der Luft, bevor er sich mit einem Knurren senkte. Im gleichen Moment zog Ondragon den Kopf ein und rollte sich zur Seite. Doch nicht die Klauen des Wendigo gruben sich neben ihm in die Matratze, sondern ein Gegenstand, von dem er annahm, es sei Rumsfelds Kopf. Mit einem lauten Klatschen landete er auf dem Bett. Als Ondragon wieder aufblickte, war der drohende Schatten der Kreatur verschwunden, nur die Vorhänge bewegten sich vor der offenen Balkontür im Wind. Vorsichtig setzte er sich auf und sah sich im Zimmer um. Er war allein. Dann fiel sein Blick auf den Kopf, der neben ihm auf dem Kissen lag, und sein Herz blieb stehen!
Noch während er aus diesem schrecklichen Traum erwachte, hörte Ondragon sich selbst schreien - ein heiserer, urtümlicher Laut, der langsam in der Stille des Zimmers verebbte. Heftig atmend fuhr er sich über das Gesicht. Oh, Mann, was für ein beschissener Alptraum! Noch immer hing das Bild von dem abgetrennten Kopf vor seinem inneren Auge. Aber es war nicht der struppige Hundeschädel gewesen, der ihn mit totem Blick angesehen hatte, sondern der eines Menschen. Der Kopf seines Spiegelbildes! Sein eigener Kopf!
Abartig, was das Unterbewusstsein mit einem anstellte, dachte er und wollte gerade das Licht anknipsen, um nach dem Notizblock zu suchen, da ertönte ein lautes Poltern von draußen. Senkrecht fuhr Ondragon aus dem Bett und lauschte.
Das Poltern wiederholte sich nicht, dafür fiel ihm auf, dass die Balkontür offen stand, genau wie in seinem Traum. Das Beunruhigende daran war jedoch: Er hatte sie geschlossen, bevor er ins Bett gegangen war! Ganz bestimmt. Ohne das Licht anzuschalten, ging Ondragon zum Tresor und holte seine Waffe heraus. Dann trat er, die Pistole im Anschlag, an die Balkontür. Er atmete einmal tief ein und sprang schließlich durch die Vorhänge hinaus
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