Ondragon - Menschenhunger
Trennlinie zu geben. Das hatte er auch schon am Tag zuvor gespürt.
Es war total bescheuert, aber genau aus diesem Grund vertraute er ihr. Also erzählte er weiter, und das näher an der Wahrheit, als er ursprünglich beabsichtigt hatte.
„Mein Vater war Diplomat. Er lernte meine Mutter kennen, als er in der Botschaft in Stockholm arbeitete. Ich kam dort zur Welt, aber mein Vater wollte, dass ich Deutscher bin, also bekam ich einen deutschen Pass. Nach Stockholm durchlief mein Vater weitere Stationen, die alle nicht in Deutschland waren. Meine Mutter und ich begleiteten ihn - alle drei Jahre woanders hin. Ich bin also ein Diplomatenkind und in vielen verschiedenen Ländern und Städten aufgewachsen: Teheran, Nairobi, Kairo, Bangkok, Tokio.“
„Das klingt alles sehr aufregend.“
Ja, dachte Ondragon, das alles war in der Tat aufregend, aber es hatte auch dazu geführt, dass er keine richtige Heimat besaß. Er war ein Entwurzelter. Aber ausnahmsweise gab er seinem Vater dafür keine Schuld. Dass er ihn zu einem Freak gemacht hatte, dafür konnte er allerdings schon etwas! Mit Gewalt schob Ondragon seine aufwallenden Gefühle zur Seite. Das alles tat hier nichts zur Sache.
Kateri schob sich derweil eine Strähne hinter das Ohr. Sie schien lebhaft interessiert. „Meine Eltern haben mich auch immer mit auf ihre Forschungsreisen genommen. Das war spannend. Ich habe viele Länder gesehen ... bis sie den Unfall hatten.“ Sie senkte den Blick, und ein Schatten flog über ihr Gesicht schwarz wie ein Rabe. Nach einer Weile sah sie ihn wieder an. „Welches Land mögen Sie am liebsten?“
„Eindeutig Japan. Es ist meine zweite Heimat nach den USA. In Deutschland habe ich es versucht, aber es hat nicht funktioniert. Die Leute dort sind zu … wie soll ich sagen, nicht verrückt genug.“
„Und die Japaner sind besser im Verrücktsein?“
„Oh, ja! Die Japaner sind das verrückteste Völkchen, das ich kenne!“
„Und warum wohnen Sie dann nicht in Japan?“
„In den USA habe ich wiederum die besten Voraussetzungen für meine Firma. In Japan oder Deutschland gibt es zu viele Einschränkungen. Ich bin aber immer mal wieder in Japan und treffe dort meine Freunde. In Deutschland bin ich seltener.“ Tatsächlich hatte er seine Eltern das letzte Mal vor 16 Jahren gesehen. Das war, als sein Vater offiziell außer Dienst ging und zusammen mit seiner Mutter endgültig nach Berlin zog.
„Vermissen Sie ihre Eltern nicht?“
„Nein.“ Ondragon legte nachdenklich den Kopf schief. War das tatsächlich so? Und warum sollte er Miss Wolfe davon nicht einfach erzählen? Er hatte schon lange nicht mehr über seine Eltern gesprochen, und vielleicht würde es ihm gut tun, wenn er die eingetreten Pfade für einen Augenblick verließ. Natürlich würde er es bei den unverfänglichen Dingen belassen. Sicher war sicher und seine Gewohnheiten sein bester Schutz. „Nun, vielleicht vermisse ich meine Mutter ein wenig“, lenkte er schließlich ein. „Zu meinem Vater habe ich nicht das beste Verhältnis. Aber meine Mutter, die war für ihre Generation schon ziemlich cool. Sie war Soldatin in der schwedischen Armee und leidenschaftliche Skilangläuferin. Ich war oft mit ihr in Schweden - öfter als mit meinem Vater in Deutschland - meistens im Winter, damit sie dort trainieren konnte. 1976 hat sie bei den olympischen Spielen in Innsbruck die Goldmedaille gewonnen. Ich war damals neun und durfte sie gemeinsam mit meinen Großeltern begleiten. Das war ein großartiger Moment. Ich war sehr stolz auf sie.“
„Das glaube ich.“ Wie aus heiterem Himmel wirkte Kateri Wolfe plötzlich meilenweit weg und zutiefst melancholisch. Erst nach einigen Minuten kam sie wieder zu sich.
„Sehr gerne würde ich noch mehr von Ihnen erfahren, Paul. Aber ich befürchte, ich muss jetzt zu meiner Sitzung bei Dr. Arthur.“ Sie schaute auf ihre Uhr und erhob sich.
„Sehen wir uns zum Mittagessen?“
Ondragon nickte und erhob sich ebenfalls.
Als Kateri Wolfe den Tisch verließ, schaute er ihr nachdenklich hinterher. Das Gefühl, dass diese Frau einen dunklen Abgrund in sich trug, war stärker als je zuvor.
Carlos trat an seinen Tisch. „Bravo! Das hat noch niemand geschafft.“
„Was?“
„Bei Miss Wolfe mit am Tisch zu sitzen.“
Verwundert schaute Ondragon den Chefkellner an.
Der hob die Schultern. „Sie ist ein wenig speziell, müssen Sie wissen.“
„Wie meinen Sie das?“
„Eigentlich darf ich ja nicht über die Gäste reden, aber
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