Ondragon - Menschenhunger
Magen rumorte es.
In die Leiche getreten! Wie um alles in der Welt hatte er das nicht bemerken können?
Dafür gab es nur eine Erklärung: Es musste während seiner bescheuerten Stampede durch das Gebüsch passiert sein, als der Bär hinter ihm her war.
Oh, Mann! Er fuhr sich durchs Haar. Ich bin abgespannter, als ich dachte.
Schwerfällig erhob er sich vom Bett, suchte eine Plastiktüte aus seiner Reisetasche und stopfte die Laufschuhe hinein. Erst als er die Tüte luftdicht verknotet hatte, stieß er den angehaltenen Atem aus. Den Leichengeruch, der zweifelsohne an den Schuhen klebte, wollte er nicht unbedingt in die Nase bekommen. Er legte das ganze Bündel in die Badewanne. Als er seinen angewiderten Blick davon abwandte und zufällig in den Spiegel schaute, seufzte er. Er sah genauso aus, wie er sich fühlte.
Mies.
Das Rendezvous mit Miss Wolfe war das einzig Erfreuliche an diesem Tag, der ja erst sein zweiter in der CC Lodge war. Sie trafen sich gegen neun Uhr abends in der Lounge und da Miss Wolfe erklärte, sie säße gerne direkt an der Bar, setzten sie sich an die Theke. Äußerst sympathisch.
Ondragon grüßte Hatchet, der sich in einer Polsterecke fläzte und Musik auf seinem iPod hörte, und bestellte beim Barkeeper einen Virgin Caipirinha. Kateri nahm ein alkoholfreies Bier aus der Flasche. Noch sympathischer.
Zuerst plauderten sie über dies und jenes, belangloses Zeug, bis sie schließlich zum zweiten Drink und „zu der Welt da draußen“ kamen. Ondragon erzählte Kateri, was er von Pete erfahren hatte, und dass der Medical Examiner annahm, ein Bär könne den Mann getötet haben.
„Das ist möglich, die kriegen schon mal einen Fressflash. Dann fallen sie alles an, was ihnen in die Quere kommt“, entgegnete Kateri gelassen.
„Gestern haben Sie noch gesagt, dass die Viecher harmlos sind.“
„Ich wollte Sie nicht verängstigen, Sie sahen schon gehetzt genug aus.“
„Gehetzt?“
Sie lächelte hintergründig.
„Dann hatte ich wohl Glück. Da war nämlich tatsächlich etwas hinter mir her, genau an der Stelle, wo Pete die Leiche gefunden hat.“ Ondragon nippte an seinem zweiten Caipi.
„Vielleicht hat der Bär gedacht, Sie machen ihm seinen für schlechte Zeiten angelegten Vorrat streitig.“
„Das klingt doch, als sei an der Bärentheorie was dran.“ Ondragon lachte. „Pete glaubt nämlich, dass es so ein Waldmonster war, das hier herumläuft. Der Wendigo, oder so ähnlich. Was für ein Schwachsinn! Der Typ hat zu viel Fantasie.“
Erst jetzt bemerkte er, dass Kateri mitten in der Bewegung erstarrt war. Die Flasche mit dem Bier hing vor ihren Lippen in der Luft. Kondenswasser tropfte auf ihren Schoß.
„Was ist?“, fragte er.
Sie blinzelte und sah ihn an. Kühle Distanziertheit und noch etwas anderes war in ihre dunklen Augen getreten. Unbehagen?
„Mit dem … Waldmonster ist nicht zu spaßen“, sagte sie aufgebracht, aber leise. „Und man sollte wissen, was man tut, wenn man seinen Namen ausspricht.“
Ondragon stellte sein Glas auf die Theke. „Jetzt sagen Sie bloß nicht, dass Sie auch daran glauben?“
„Ich bin Indianerin, mein Stamm ist hier im Norden ansässig, ich bin mit der Legende aufgewachsen. Meine Großeltern haben sie an meine Eltern weitergegeben und meine Eltern an mich. Und ich werde sie gleichfalls irgendwann einmal an meine Kinder weitergeben.“
„Die Legende vom Wendigo?“
„Schhht!“ Kateris hübsche Augenbrauen kräuselten sich missbilligend.
„Erzählen Sie mir von der Legende?“
Sie blitzte ihn an. „Wenn Sie mir versprechen, mehr Respekt vor diesem Wesen zu zeigen.“
Ondragon nickte.
„Also gut.“ Sie strich sich eine ihrer langen Haarsträhnen hinters Ohr, lehnte sich etwas vor und sprach leise weiter: „Das Wort Wendigo , Paul, stammt aus der Sprache der Anishinabe-Stämme, zu denen auch wir Ojibway oder auch Chippewa zählen, und es ist sehr alt. Die Stämme der Anishinabe hier im Norden der USA und in Kanada unterscheiden sich von denen der Irokesen in einem besonderen Punkt. Die Anishinabe haben niemals Menschenfleisch gegessen!“
„Menschenfleisch?“
„Ja, die Irokesen haben in schlechten Zeiten, in bitteren Wintern und Dürren, durchaus zu diesem Mittel gegriffen, um sich mit Menschenfleisch vor dem Verhungern zu retten. Meistens haben sie Angehörige anderer Stämme verzehrt oder Weiße, die zufällig durch ihr Gebiet zogen, besonders gerne Missionare“, hier zeigte Kateri ein wölfisches Grinsen.
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