Ondragon - Menschenhunger
Seltsames gehört, aber nichts gesehen. Vielleicht war es ein Bär, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Aber da war noch etwas anderes Ungewöhnliches.“
Aufmerksam sah Pete ihn an.
„Da war ein Netz über den Weg gespannt, dort, wo das Dickicht einen Tunnel bildet. Und in dem Netz hing ein mumifizierter Raubvogel. Irgend so ein Indianerzeugs. Hast du das auch gesehen?“
Pete regte sich nicht gleich. Dann nickte er.
„Und die Polizei?“, drängte Ondragon weiter.
Wieder ein Zögern. Dann ein Kopfschütteln.
„Du hast es abgemacht und vor den Bullen versteckt?“
Kopfnicken.
„Warum? Was hat das zu bedeuten? Hat es mit der Leiche zu tun?“
Pete biss sich auf die Unterlippe. Und erst sah es so aus, als wolle er die gleiche Unfreundlichkeit an den Tag legen wie sein Großonkel, doch dann stieß er Luft aus und nickte. „Frank sagt, ich bin ein Spinner, aber ich glaube daran!“
„An was?“
„An das Waldmonster, den Wendigo! Er war das, er hat die Person dort draußen umgebracht und aufgefressen!“
„Der Wendigo?“ Ondragon war geneigt, sich Frank anzuschließen. Pete hatte wirklich nicht alle Latten am Zaun.
Mit bebender Stimme erzählte der Kofferjunge weiter. „Der Wendigo lebt hier in den Wäldern und frisst Menschen. Er hat immer Hunger und ist ständig auf der Suche. Die Indianer hier wissen das. Sie haben Medizin, oder Zauber, oder wie das heißt, gegen ihn. Auch ich weiß, was man tun muss, damit er einen in Frieden lässt. Ich wusste nichts von der Leiche und dem Netz. Ehrlich!“
„Es ist also nicht von dir?“
„Nein.“
„Und von wem könnte es dann sein? Warum hast du es abgemacht?“
Pete sah zu Boden und zuckte mit den Schultern. Entweder er wusste es nicht, oder er wollte es nicht sagen. Nicht so wichtig. Vorerst.
„Aber es war doch bestimmt ein Bär, der die Person getötet hat.“ Ondragon blieb am Ball.
„Das glauben der Medical Examiner und die Polizei. Aber ich hab nichts gesagt. Sie glauben mir sowieso nicht. Frank schimpft immer mit mir, dass ich so ein Unsinn rede. Er lacht mich aus, nennt mich einen kreuzdummen Hillbilly. Aber das stimmt nicht!“
Ondragon schwieg einen Moment. Es musste eine vernünftige Erklärung für das alles geben. Mit ruhiger Stimme sprach er weiter: „Pete, das, was mich gestern verfolgte, hat vor dem Netz nicht Halt gemacht. Ich habe es gesehen, es war hinter mir her ohne zu zögern. Es war ganz sicher ein Bär.“
Pete ließ die Schultern hängen, als wäre er eine Marionette, der man soeben alle Fäden gekappt hatte. Müde schüttelte er den Kopf. „Oh, nein, Mr. On Drägn … glauben Sie mir, das war er …“
Er ? Ondragon hatte die Faxen dicke, aber er musste sich Pete warmhalten. Er war der einzige, von dem er Informationen bekam.
„Ich war übrigens gerade bei deinem Großonkel und … wie heißt übrigens dein Bruder?“
„Momo. Eigentlich Mortimer. Aber das ist zu spießig, sagt Onkel Joel.“
„Da hat er Recht. Der gute alte Joel ist ganz schön auf Zack, was?“
„Hat er Sie mit der Flinte bedroht?“ Pete lächelte zaghaft.
„War meine eigene Schuld. Was laufe ich auch ohne Vorankündigung auf euer Grundstück. Richte deinem Großonkel bitte aus, dass es mir leid tut.“
„Geht klar. Onkel Joel ist gar nicht so böse, wie er manchmal aussieht. Er kümmert sich um uns, seit unsere Eltern gestorben sind. Da waren wir noch Kinder. Ich war elf und Momo neun.“
„Das mit deinen Eltern hat mir Frank schon erzählt“ Ondragon sah, wie beim Namen des Gärtners ein Schatten über die blassen Züge des Kofferjungen huschte. „Was ist mit ihnen passiert?“
„Ach, sie … wir lebten in der Nähe von Orr im Wald. In einer Hütte, genau wie die, in der wir jetzt leben. Und …“ Pete räusperte sich. Es war ihm offensichtlich unangenehm, darüber zu sprechen. „Nun, als ich eines Tages von der Schule nach Hause kam, … da waren sie … tot.“
„Einfach tot? Wurden sie umgebracht? Erschossen?“ Ondragons Sinn für geheimnisvolle Geschichten schlug zum zweiten Male am heutigen Tag an.
„Nein ... es tut mir leid, Mr. On Drägn , aber ich muss jetzt gehen. Besser, Sie gehen auch, sonst werden Sie noch völlig nass. Bis morgen.“ Pete tippte sich an die Mütze und ging den Weg in Richtung der Blockhütte weiter.
Ondragon sah ihm nach und fühlte, wie ihm das Wasser kalt in den Kragen seiner Jacke rann. Was mochte mit der Familie Parker passiert sein? Noch ein Mord? Noch ein Rätsel? Aber das
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