Ondragon - Menschenhunger
lernen, was es bedeutete, sich mit dem Oberaffen anzulegen.
28. Kapitel
1835, am Rainy Lake, kanadische Provinz
Two-Elk betrat die kuppelförmige Hütte aus Rinde und grüßte ehrfürchtig den Mann, der dort eingepackt in Bärenfelle vor einem kleinen Feuer kauerte und dabei aussah wie ein ergrauter Grizzly. Der Alte machte ein Zeichen mit seiner runzligen Hand, und Two-Elk setzte sich auf den mit Fichtenzweigen ausgelegten Boden des Wigwams. Danach schwiegen beide eine Weile.
Erst, als der alte Chippewa-Schamane seine Pfeife herausholte und sie rauchte, brachte Two-Elk sein Anliegen vor.
Die Miene des Schamanen blieb unverändert, auch als schließlich das Wort Wendigo fiel. Nachdem Two-Elk geendet hatte, legte der Alte die Pfeife zur Seite. Two-Elk wartete darauf, dass der Alte etwas sagen würde. Sie beide stammten von einer Stammesgruppe ab, die von den Weißen über das gesamte Waldland von hier bis zu den Großen Seen zersprengt worden war. Der alte Schamane, der hier an dem von Birken gesäumten Ufer des Rainy Lake mit seiner Frau lebte, war der klägliche Rest einer einst mächtigen Nation. Wenn er starb, würde mit ihm der letzte Mann gehen, der noch mit den Geistern sprechen konnte.
„Der Wendigo, sagtest du?“ Der Alte räusperte sich.
„Ja, er ist es. Ich habe ihn mit meinen Augen gesehen, als er meinen Freund angefallen hat.“
„Und dieser Freund trägt den bösen Geist nun in sich?“
„Ja, er leidet.“ Two-Elk war drei Tage unterwegs gewesen, um den Rainy Lake zu erreichen, und hoffte, dass Parker überhaupt noch am Leben war, wenn er zu ihm zurückkehrte.
„Mein Sohn, willst du ihn retten oder töten?“, fragte der Alte. Seine Stimme klang brüchig wie Eichenrinde.
„Ich will ihn retten, wenn ich nicht zu spät komme.“
„Gut. Doch wenn du zu spät sein solltest, dann musst du ihn töten. Wir müssen das Gleichgewicht wahren. Noch ein Wendigo ist nicht gut, verstehst du das?“ Sein Finger, so dünn wie ein getrockneter Zweig, schwebte zwischen ihnen in der Luft.
„Ja.“ Two-Elk wusste, dass der Schamane Recht hatte. Außerdem hatte er sich bereits dazu entschlossen, seinem Freund das Schicksal zu ersparen, als ewig hungriger Geist durch die Wälder zu irren.
„Ich erzähle dir vom Wendigo, mein Sohn. Es ist wichtig, seine Geschichte zu kennen, damit du sie an deine Kinder weitergeben kannst. Die Geister und Kitchie Manitou müssen geheiligt werden. Sie wachen über das Leben und den Tod. Der Wendigo aber ist das Böse. Er ist ein Gestaltwandler. In seiner menschlichen Gestalt kannst du ihn nur an seinen roten Augen erkennen. Hat dein Freund diese Augen?“
Two-Elk nickte.
„Dann ist sein Geist in ihm. Der Wendigo verführt Menschen, ihresgleichen zu töten und zu essen. Wer vom Wendigo berührt wurde, wird kalt und grausam und leidet schrecklichen Hunger. Sein Herz wird zu Eis und sein Blut zu Schnee. Seine Füße schmerzen ihn und deshalb ist er auf Ewig zur Wanderschaft verdammt. Er kann so schnell sein wie der Nordwind und so leise wie das Nichts, so stark wie zehn Bären und so hart wie Stein.“
„Kann man ihn besiegen?“, fragte Two-Elk mit gedämpfter Stimme.
Der Alte verzog die Lippen zu einem undurchdringlichen Lächeln. „Der Wendigo ist ein mächtiger Geist, er lebt ewig, doch leidet er an Einsamkeit. Besiegen kann man ihn nur, indem man ihn fängt und verbrennt. Einen Menschen, der vom Wendigo berührt wurde, kannst du nur heilen, wenn du sein Herz, das zu Eis geworden ist, wieder auftaust. Dazu brauchst du das hier, mein Sohn.“ Der Schamane schob ihm einen Beutel hinüber.
Two-Elk öffnete ihn und sah den Alten fragend an. „Bienenwachs?“
Der Alte nickte bedächtig. „Nimm es mit und geh zu deinem Freund, versuche, ihn vom kalten Fieber zu befreien. Aber denk daran, wenn es dir nicht gelingt, und der Geist des Wendigo zu stark ist, fordere ihn nicht heraus. Töte deinen Freund, dann schwächst du den Wendigo, und er muss zurück in den Wald. Dort wird er seine Wunden lecken, aber er wird auch warten … auf sein nächstes Opfer.“
29. Kapitel
2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge
Nachdem er den Vormittag im See schwimmen gewesen war, nachmittags ein Gespräch mit Dr. Reto Pollux über eine mögliche zusätzliche Therapieeinheit geführt und sich mit Vernon für den Abend auf eine Partie Basketball verabredet hatte, entspannte sich Ondragon bei einer Flasche kaltem Mineralwasser und einer Ausgabe der National Geographic auf einer Liege,
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