Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
nichts in dem Zimmer, außer dass einfach nur die schummerige Deckenlampe brannte. Langsam leerten sich die Biergläser, und die Kellnerin kam und ging. Erst als die neuen Getränke auf dem Tisch standen, öffnete sich im gegenüberliegenden Zimmer die Tür und ein Mann kam wankend in den nur schwach erleuchteten Raum. Ondragon runzelte die Stirn. Nur ein Mann?
Nein vielmehr drei oder vier !
Verdutzt schaute er näher hin und war beruhigt, als er begriff, dass der ganze Raum mit deckenhohen Spiegeln ausgestattet war, und tatsächlich nur ein Mann ihn betreten hatte, der sich aber mehrfach spiegelte. Und es war definitiv nicht der Haitianer, denn der Typ dort drüben war ein Weißer. Sein Gesicht lag zwar in den Schatten, aber sein blondes, kurzgeschnittenes Haar war gut zu erkennen. Auch sein muskulöser Oberkörper unter dem schmutzigen Pulli.
Unschlüssig blieb der Mann mitten im Zimmer stehen und wandte sich wie betrunken einmal nach rechts und dann nach links, so als wüsste er nicht, wo er sich befand. Er trug einen Strick wie eine Hundeleine um seinen Hals, und überrascht bemerkte Ondragon, dass der Typ einen Buckel hatte. Überhaupt wirkte er wie eine Zombie-Ausgabe vom Glöckner von Notre Dame.
Die Erkenntnis fuhr Ondragon durch den ganzen Körper wie ein Stromstoß.
Doch Rod sprach den Namen noch vor ihm aus. Der Brite schien genauso überrascht zu sein wie er.
„Sylvester Stern!“
Plötzlich erschien ein zweiter Schatten hinter dem Mailman. Eine hochgewachsene Gestalt in tiefschwarzer Kleidung. Ondragon stockte der Atem. Das Gesicht der Gestalt war das eines bleichen Totenschädels, der auf dem Scheitelbein einen Zylinder trug.
Baron Samedi!
Mit raschen Schritten durchquerte der Herr der Friedhöfe das Zimmer. Nein, er glitt förmlich wie auf Fledermausschwingen ans Fenster, legte beide Hände auf das Glas und starrte mit dunklen Augenhöhlen hinaus in die Nacht.
Zu ihnen hinüber.
Schnell wandten Ondragon und die beiden anderen ihre Gesichter ab und warteten mit klopfenden Herzen.
„Ist er das?“, stieß Rod zwischen den Zähnen hervor. „Ist das der Reverend?“
„Ich kann es nicht erkennen. Er ist zu stark geschminkt. Soweit ich weiß, ist Erzilie sein Loa mèt-tèt und nicht Gèdè oder dessen Verkörperung, Baron Samedi. Deshalb auch die ganzen Spiegel. Die heilige Erzilie, die Göttin der Liebe und der Schönheit, ist die eitelste aller Loas“, flüsterte die Madame ehrfürchtig.
Ondragon wagte einen Blick hinüber zu dem Fenster. Die Vorhänge waren nun verschlossen, nur ein dünner Spalt Licht durchschnitt die Dunkelheit draußen auf dem Balkon wie eine Machete.
„Egal, wer der Typ ist!“, presste Rod wütend hervor. „Das Schwein hat einen meiner Mailmen in seiner Gewalt!“
Ondragon tastete unter seiner Jacke nach der Waffe. „Alles klar! Wir gehen rüber!“ Er stand auf.
Unten an der Theke bezahlten sie ihre Getränke und gingen auf der Royal Street in östlicher Richtung davon. Doch nur bis zur nächsten Ecke, an der sie abbogen und einmal um den Block herumschlichen, bis sie schließlich auf der von der Bar abgewandten Seite des Hauses vom Reverend ankamen. Dort befand sich hinter einer grob gezimmerten Gartenpforte der Eingang zum oberen Stockwerk. Vorsichtig warteten sie in dem winzigen Garten und lauschten, während Ondragon die dunkle Fassade hinaufblickte.
Alles schien ruhig.
Er holte sein Dietrichset hervor und öffnete die Tür, die laut quietschend aufging. Stumm fluchend warteten sie, ob sich etwas tat, dann zogen sie ihre Waffen und traten in das enge Treppenhaus. Einer nach dem anderen erklommen sie die schmale Stiege, die direkt zu der Wohnungstür hinaufführte.
Oben angekommen lauschte Ondragon erneut. Er gab Rod ein Zeichen, nach hinten abzusichern, und machte sich an dem Schloss zu schaffen. Keine fünf Sekunden später machte es leise klick, und die Tür schwang lautlos auf. Auf Zehenspitzen betraten sie die Wohnung des Voodoo-Priesters und staunten nicht schlecht, als sie sich in einem bizarren Spiegelkabinett wiederfanden. Alle Wände im Flur waren mit reflektierenden Flächen behangen, Spiegel in allen Größen und Formen, rund oder quadratisch, sogar ein dreieckiger war dabei. In schweren Rahmen, flankiert von echten Totenköpfen und grausigen Wesen aus der Unterwelt mit Hörnern und doppelten Zungen, geschmückt mit rostigen Ketten, mumifizierten Tierkadavern und bunten Pailletten, bemalt mit weißen Schlangenzeichen und gekrönt von
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