Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
Live-Musik-Bar zur nächsten, bis sie das „Pikes“ erreichten, das genau vis à vis ihres Zielobjektes lag. Sie ließen die Drinks im Rinnstein stehen und kehrten fröhlich scherzend in die Bar ein, in der zur Abwechslung keine Musikband spielte. Sie stiegen in den zweiten Stock hinauf, wo sie sich an einen Tisch am Fenster setzten.
Ondragon war beeindruckt, als er unauffällig einen Blick auf das Backsteingebäude warf, in dem der Voodoo-Priester residierte. Es war ein prächtiges, zweistöckiges Eckhaus mit farngeschmückten Eisenbalkonen und einer modernen Kunstgalerie im Untergeschoss. In den hohen, beleuchteten Schaufenstern waren großformatige Bilder ausgestellt, die an Pop Art erinnerten. Mit der Zunft des Zauberns konnte man offenbar ziemlich gut Geld verdienen – oder eher mit den Jobs, die man nebenbei noch so erledigte?
Sie bestellten Blue Moon Beer mit Orange und stießen an. Nachdem sie einen Schluck genommen hatten, unterzog Ondragon das gegenüberliegende Haus einer näheren Begutachtung, besonders das obere Stockwerk, in dem der vermeintliche Bokor den Angaben der Madame nach wohnte. Die Fensterläden waren geöffnet, die Zimmer hinter den Glasscheiben jedoch allesamt dunkel.
„Ist er überhaupt da?“, fragte Rod. „Nicht, dass er unterwegs ist.“
„Sein Humfò ist drüben in Algiers auf der anderen Seite des Mississippi. Aber ich glaube nicht, dass er jetzt dort ist. Er hält seine Rituale immer samstags ab, manchmal auch dienstags.“
„Vielleicht ist er in einem seiner weiteren Etablissements?“ Ondragon sah die Madame mit hüpfenden Augenbrauen an.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, er hat keinen Club wie ich, er hat nur einen Tempel. Aber dem Reverend gehört dafür der Showroom dort unten. Ist auch ganz einträglich. Ich schätze, wir müssen nur etwas warten, dann wird er kommen. Ich habe gehört, dass er an den Abenden, an denen er keine Rituale abhält, gerne früh zu Bett geht. Braucht wohl seinen Schönheitsschlaf, der eitle Pfau.“
„Na na, höre ich da leichte Abneigung?“, fragte Rod scherzhaft.
„Ich konnte ihn nie richtig leiden. Er hat immer versucht, mir Mitglieder aus meiner Gemeinde abspenstig zu machen.“
„Es herrscht also doch Konkurrenzkampf zwischen den Voodoo-Priestern in New Orleans?“ Rod sah die Madame interessiert an und nippte an seinem Blue Moon.
„Normalerweise nicht. Eigentlich leben die drei Geheimgesellschaften von New Orleans, die sämtliche Tempel unter sich aufgeteilt haben, friedlich nebeneinander. Vor fünf Jahren jedoch kam der Reverend nach New Orleans und wollte sich mit seinem Humfò ins Quarter drängen. Das haben wir zum Glück verhindern können, indem wir Shanpwel gemeinsam ein Verbot ausgesprochen haben. Der Reverend hat sich daran gehalten und seinen Tempel außerhalb des French Quarters errichtet, deshalb ist er drüben in Algiers. Aber das Verbot hat ihn nicht davon abgehalten, sich hier sein Wohnhaus einzurichten. Das ist natürlich reine Provokation, die von unserer Seite mit Verachtung bestraft wird. Für uns gilt der Reverend als unredlich. Sein schlechter Ruf schert ihn allerdings wenig, er hat viele Esoterik- und Hoodoo-Anhänger um sich geschart, was ihm auch gute Einkünfte bringt. Er ist nicht auf die wahren Vodou -Gläubigen angewiesen.“
„Er ist also bereits eine Persona non grata in Ihrer Gemeinschaft, was er aber geflissentlich ignoriert“, konstatierte Rod.
„Ja, Und ich wäre beinahe froh, wenn er tatsächlich in finstere Machenschaften verwickelt ist, denn das würde bedeuten, wir könnten ihn jetzt endlich loswerden!“ Die Madame starrte grimmig in ihr Glas.
„Und warum haben Sie ihn nicht schon vor Jahren abserviert, wenn Sie ihn hier nicht haben wollen?“, erkundigte sich Ondragon in spöttischem Tonfall.
„Weil jeder, der aus Haiti stammt, zu unserer Familie gehört, zu unserem Blut. Und wir halten zusammen. Auch wenn er ein schwarzes Schaf ist, gehört er doch zur Familie. Aber jetzt hat er den Bogen überspannt!“
„Aha … das ist ja wie beim Paten.“ Ondragon imitierte die Stimme von Marlon Brando. „Ich habe einen Stein im Schuh!“
„So ähnlich …“
„He, pssst, da tut sich was“, unterbrach Rod leise das Gespräch. Unauffällig nickte er in Richtung des nun erleuchteten Fensters auf der anderen Seite.
Ondragon und die Madame warfen aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick hinüber. Würde der Reverend gleich dort auftauchen?
Eine ganze Weile lang tat sich jedoch
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